Die Frau und die Alte
Es fing mit den Augen an. Das ist jetzt schon ein paar Jahre her, doch sie weiss es genau. Die Augen waren das erste. Klein und müde sind sie geworden. Ausdruck und Lebendigkeit konnte sie ihnen nur noch durch Mascara, Lidschatten und Eyeliner verleihen. Auch wenn ihr das erst jetzt bewusst wurde. Der misstrauische Blick in den Spiegel verriet ihr das schonungslos.
Heute nahm sie sich Zeit. Sie wollte sich kennenlernen, die Frau dort im Spiegel. Seit Jahren begleitete diese Alte sie, doch sie kannte sie kaum. Nie hat sie angehalten, «Hallo», gesagt. Oder, «Schön, dich zu sehen.» Doch die Alte blieb. Tag für Tag sah sie die Frau an, versuchte ihre Aufmerksamkeit zu erhaschen. Die Frau aber huschte am Spiegel vorbei, kaute auf ihrer Zahnbürste herum und schrieb dabei Notizen auf den Kalender. Energisch bürstete die Frau ihre blonde Mähne, die mit silbernen Strähnen nur noch mehr leuchtete. Doch die Augen der Frau zuckten dabei nur von Strähne zu Strähne, vom Scheitel zu den Ohren und zur goldenen Spange, die sie manchmal seitlich trug.
Ja, wenn sie nur so am Spiegel vorbei hastete, dann war die Frau noch jung, lebhaft und voller Energie. Da war der Tag noch frisch und zauberte auf das geduschte Ich einenschmeichelndenFilter. Da rannte die Frau hinter den Kindern hinterher und hängte ihnen im Gehen die Rücksäcke auf die Schultern und warf ihnen einen Abschiedskuss nach. Dem Mann hauchte sie morgens einen Kaffeeflirt auf die Wange und lächelte dieses verträumte Lächeln, dass sie sich seit zwanzig Jahren bewahrt hatte. Er verliess sie für den Rest des Tages und dachte sich nichts dabei.
Doch heute war allesanders. Die schwüle Juniluft lag bereits am Morgen wie ein Film auf ihrer Haut. Als die Tür ins Schloss fiel, wie an jedem Morgen, ging sie ins Badezimmer um sich die Schwüle vom Gesicht zu waschen. Das kühle Wasser tat ihr gut. Sie tupfte ihre Haut ab und sah in den Spiegel. Und da war sie, die Alte. Wo kam sie so plötzlich her, fragte sich die Frau. Sie hielt noch immer das Handtuch in der Hand. Sie rubbelte über ihr Gesicht, doch die Alte blieb. Freundlich sah sie die Frau aus ihren graublauen Augen an. Ein Lächeln lag darin. Und eine Bitte.
Nun sah die Frau genauer hin. Sie strich sich einige feuchte Haarsträhnen hinters Ohr und sah der Alten ins Gesicht. Sie suchte etwas. Sah in die blassen Augen, die kurzen Wimpern und die wirren Brauen. Die Nase, sie kannte diese Nase. Und der Mund? Vielleicht auch den Mund. Sicher die Zähne, unverändert, etwas schief und an den Rändern ausgefranst.
Die Frau kniff die Augen zusammen. Kleine Fältchen zogen tiefe Riefen um die Augen der Alten. Sie zwinkerte verschmitzt, als wolle sie sagen, «Hallo, schön dich wieder zusehen.» Doch die Frau kannte die Alte nicht. Und sie wollte sie auch nicht kennen lernen. Sie rannte aus dem Badezimmer. Raste die Treppen hinunter. Rannte wieder hinauf, Stürmte ins Bad und schrie den Spiegel an, «Noch nicht, Noch bin ich jung. Und du wirst mir das nicht kaputt machen!»
Als die Frau wieder hinausrannte, hatte die Alte Tränen in die Augen. Die Frau liess sich aufs Bett fallen und weinte sich in den Schlaf. Gegen Mittag, als sie aufwachte, konnte sie sich zunächst an nichts erinnern. Doch dann schlug ihr die Mittagshitze ins Gesicht und sie verspürte den Wunsch, sich zu erfrischen, das Gesicht zu kühlen. Und da fiel ihr alles wieder ein.
Ängstlich zitternd ging die Frau ins Bad. Sie tastete sich am Waschbecken entlang, hielt die Augen fest verschlossen. Sie wollte die Alte nicht sehen. Einige Minuten hielt sie den Kopf unter das kalte Wasser. Das Handtuch lag noch am Rand. Sie konnte es ohne aufzusehen nehmen. Erfrischt schlich sie geduckt aus dem Badezimmer. Was sollte sie jetzt tun? Sie konnte ja nicht nur noch nachts ins Bad, wenn völlige Dunkelheit herrschte, oder den Spiegel abnehmen. Ihr Mann würde das sicher nicht verstehen.
Sie kochte sich eine Tasse Kaffee und setzte sich in den Garten. Im Schatten des Apfelbaums war es angenehm frisch. Leise rauschte der Wind in den Blättern und die Frau beruhigte sich langsam. Tief atmete sie durch und lies ihren Blick wandern, über die Rosenbeete und Blumenrabatten.Schliesslich kehrte er zurück und setzte sich, wie ein kleines schnurrendes Kätzchen in ihren Schoss. Dort lagen ihre Hände auf einem zugeklappten Buch, das sie vorhatte zu lesen. Sie öffnete es. Doch ihr Blick blieb an ihren Händen haften. Sie versuchte ihn loszureissen, sich auf die Zeilen, die Buchstaben zu konzentrieren. Sie las und las und las immer nervöser, immer schneller. Sie wusste nicht was sie dalas. Ihre Lippen bewegten sich, doch ihr Blick schweifte immer wieder zu ihren Händen. Schliesslich verlor sie die Geduld. Sie klappte wütend das Buch zu und legte herausfordernd ihre Hände auf das Buch, damit sich ihre Augen satt sehen konnten.
«Bitte. Bitte, das habt ihr doch gewollt.»
Ihre Finger spannten sich, rollten sich zu Fäusten zusammen, lockerten den Griff wieder und blieben erschöpft auf dem Buch liegen. Kleine hellbraune Flecken sassenauf der weichen porigen Haut. Blaue Adernschoben sich, wie kleine Flüsse unter der dünnen Haut entlang. Die Frau atmete tief ein, dann stand sie langsam auf. Sie ging ins Badezimmer und sah in den Spiegel.
«Hallo. Wie geht es dir?», sagte sie. Und die Alte lächelte sie milde an.