Was manchmal alles in der Zeitung steht
Bertram starrte nachdenklich auf die Zeitung. Was er da gerade gelesen hatte, machte ihn nachdenklich. Natürlich war der grosse, schlanke Mann, mit dem dünnen roten Haar sowieso eher der nachdenkliche Typ. Schweigsam, als dass er je ein Wort zu viel gesagt hätte.
Er strich mit den Händen die Seiten glatt. Wischte Staubkörnchen von den Zeilen und fuhr mit den Fingern über die bemerkenswerten Worte. Seine grauen Augen sprangen von Buchstabe zu Buchstabe, ohne sie zu einem Wort zusammenzufügen. Vielleicht erschloss sich ihm dann der tiefere Sinn.
Langsam füllte der Geruch nach Buttertoast und Kamillientee das kleine Zimmer. Bertram stand auf und ging zum Fenster. Er sah von seiner Stube im vierten Stock auf die Dächer der gegenüberliegenden Häuser. Am Horizont läutete die Kirche zum heiligen Ignatius.
Für einen kurzen Augenblick verweilte er. Lauschte dem Klang der Kirchenglocken und dem darauffolgenden Stimmengewirr der Schüler, die nun in Scharen das alt ehrwürdige Schulgebäude auf der anderen Stassenseite verliessen.
Bertram schüttelte den Kopf, was die Zeitungen alles so schrieben? Und was die Menschen dann lasen und glaubten. Wenn er es nun aber anders machen würde? Wenn er nicht glauben würde? Wenn er einfach die Tatsachen, die in der Zeitung standen nicht annehmen würde? Was würde dann passieren? Waren diese Dinge dann nicht passiert? Konnte man den Tod der Nachbarin einfach leugnen und weiterhin von ihrer Existenz ausgehen?
Und die Strassensperrung? Wenn er nun die Bauarbeiten in der Liebknechtstrasse leugnete. Würden dann die grossen Bagger verschwinden? Oder stände er plötzlich vor der Baugrube und würde sich über die Massnahmen wundern?
Bertram legte sich auf seine Couch. Schwarzes Leder knarzte unter ihm. Er begann sich eine ganz neue, eine eigene Welt der Dinge auszudenken. Langsam spazierten seine Gedanken durch die Windungen in seinem Kopf.
Bilder flackerten auf und verfestigten sich. Das Gras am Rheinufer leuchtete blau. Flamingos stolzierten dazwischen herum auf der Suche nach einer seichten Uferstelle. Wie schön das aussah. Die Flamingos passten ganz wunderbar zu dem blauen Gras, das unter den hohen Pappeln fast grau war.
Im Rhein, der hier eine grosse Mulde ausgespült hatte, tummelten sich tausende Schnabeltiere. Sie kamen im Sommer immer hier her. Grillten am Flussufer und trafen Freunde und Familie.
Für Bertram war das zu viel Lärm. Er ging lieber auf der Promenade entlang. Genoss das Zirpen der Zikaden. Von hier aus konnte man die Megabauten beobachten. Kleine rosa Bagger fuhren an den Fassaden der Hochhäuser hinauf. Stapelten oben Bambuskonstruktionen für die Brücken zu den anderen Hochhäusern. Von den Brücken hingen kugelrunde Einfamilienappartments. Und alles war mit wildem Wein bewachsen.
Ja, sowas stand natürlich nicht in der Zeitung. Das fand Bertram sehr schade. Das würde ihm gefallen. Nachdenklich sah er zur Zeitung auf seinem Tisch. Er wusste, dass er gerade nur geträumt hatte und dass die Realität ganz anders aussah. Leider.
Was stand nochmal in der Zeitung? Bertram ging zum Tisch. Runzelte die rote Stirn und blinzelte die Zeilen an.
Nun brummte er. Ganz schön viel Kommunikation für einen Mann, wie Bertram. Jetzt nickte er sogar. Er atmete tief ein und schnaufte dann alles wieder raus. Er konnte es einfach nicht fassen.
Da stand, in ein paar unbedeutenden Zeilen, zwischen all den grossen Themen des Tages diese kleine, zarte Bemerkung. Dieser Literarisch kaum einzuordnente Vierzeiler. Denn mehr war es nicht. Vier Zeilen. Ein paar schnell gefundene Worte für ein Dilemma, eine Brisanz, die in Bertrams Kopf keinen Platz fand.
Wie er es auch anstellte. Sie drehte, schüttelte. Er hielt sich sogar beim Lesen die Ohren zu, damit die Worte nicht durch die Ohrmuscheln wieder hinaus rutschten.
Doch es half nichts. Sie blieben einfach nicht in seinem Kopf. Schafften es von den Augen nicht bis ins Gehirn. So gross war die Sache.
Er knabberte an seinem Buttertoast. Der Kamillientee war inzwischen kalt geworden, doch er schmeckte aromatisch und erfrischend. Die Welt da draussen wurde immer leiser. Die Schulkinder waren längst zu Hause und auch die Kirchenglocken schwiegen. Alles schwieg.
In der Stille fanden die Worte auf einmal Raum. Sie erhoben sich von der Zeitung. Lösten sich Buchstabe für Buchstabe leise knisternd vom Papier und schwebten durch das kleine Zimmer.
Die Hand nachdenklich am Kinn, ging Bertram auf die Wörter zu, die nicht zurück wichen. Die nun, wo sie endlich einen Platz gefunden hatten, diesen nicht mehr verlassen wollten. Sie plusterten sich auf, diese Wörter.
Was dachten sie denn, wer sie waren? Die Schlagzeilen oder die Titelstory? Nein. Das ging Bertram nun doch zu weit. In seinem Kopf hatten sie kein Platz gefunden und dieses Zimmer gehörte ihm. Hier wollte er allein sein. Allein in der Stille. Doch die Worte waren präsent, schienen fast laut in ihrem Dasein.
Jetzt wurde es ihm zu viel. Entschlossen öffnete er das Fenster und nahm seinen kaum benutzten Fön. Und die Worte wehten davon.
Ein Vierzeiler. Unbedeutend, von Seite 3 in die Welt hinaus. Vielleicht würde er einen besseren Platz finden, als in der Tageszeitung. Bertram hoffte es für ihn.
Er schloss das Fenster, nahm die Zeitung zur Hand und vertiefte sich in den soeben gewonnenen Platz.