Auf der Haifischinsel - Wie das Pferd auf den Leuchtturm kam

Auf der Haifischinsel - Wie das Pferd auf den Leuchtturm kam

«He da?», rief eine raue Stimme in den Nebel.

«He da», antwortet eine andere Stimme. Viel leiser und zarter und weit unten.

Das Meer hielt seinen Atem an und vergass für einen Moment das Rauschen, als Kuckuck durch den dichten Nebel rief.

«Bist du da?»

Sie lauschte in die graue, feuchte Luft. Ein leises Flattern nährte sich.

«Endlich, da ist sie. Kuckuck, sei dank. Ein Mensch, ein Mensch aus Fleisch und Blut und in geringelten Socken.

«Aber was ist denn los, Gerlinde? Du siehst ja völlig aufgewühlt aus.» Das Mädchen streckte die Hand nach der Taube aus und streichelte ihr sanft über die Federn, die sich im Nebeldunst in alle Richtungen aufzurollen schienen.

«Dieser Nebel. Dieser Nebel. Nein, ich halt das nicht mehr aus. Gerlinde schwankte und taumelte. Schliesslich liess sie sich vor Kuckuck auf den Boden fallen.

«Oh, herrje, was mach ich jetzt bloss? Gerlinde, wach doch auf. Wo ist denn überhaupt der Leuchtturm?» Kuckuck versuchte im dichten Nebel etwas zu erkennen.

«Sieh nach oben», sank eine Stimme langsam durch den Dunst auf sie herab.

Kuckuck nahm Gerlinde auf den Arm und stand auf. Sie atmete tief ein und sah hinauf in ein Meer aus grauen Wolken. War da ein kleiner, schwacher Schein. Der Nebel schien zu leuchten. Vielleicht blinzelte die Sonne durch ihn hindurch?

«Kuckuck. Ich bin hier oben», rief Rolli hinunter, «hier oben».

«Nein, ist das ein schrecklicher Nebel. So zäh, wie tausend Fässer Honig», schimpfte Kuckuck vor sich hin. Sie tastete sich langsam den Kiesweg empor in Richtung Leuchtturm, wie sie hoffte.

«Rolli, wo kommt denn bloss dieser Nebel her?»

Endlich hatte sie die Rundungen des Leuchtturms erreicht. Sie tastete sich an den feuchten Steinen entlang. Gerlinde keuchend auf dem Arm. Als sie die Tür gefunden hatte, schlüpfte das Mädchen hinein.

Im Leuchtturm war es ganz still. Über die Stufen waberte weisser Dunst zur Tür hinaus.

Kuckuck stieg vorsichtig darüber hinweg. Die Treppe drehte sich Runde um Runde den Turm hinauf. Von oben hörte Kuckuck leises Poltern.

«Rolli?», rief sie.

«Komm rein. Komm rein», sagte Rolli und schoss in seinem Rollstuhl an ihr vorbei. In seiner kleinen Kombüse, wie er liebevoll die Kochnische nannte, köchelte etwas in einem grossen Topf.

«Das riecht aber streng», sagte Kuckuck.

«Muss es auch.» Rolli schüttelte etwas Salz in den Topf. «Leider ist mir da ein Missgeschick passiert.

Also, es fing alles mit einer kleinen Nebelbank an. Heute morgen. Ich bin natürlich gleich zum Signalfeuer gerollt. Und dann hab ich das Nebelhorn betätigt. Man weiss ja nie.

Doch da röchelte etwas zurück. Jemand antwortete auf das Nebelhorn. Und es kam direkt aus der Nebelbank. Ehrlich.

Gerlinde war natürlich nicht begeistert. Sie kann das laute Tröten des Nebelhorns nicht ertragen. Das ist für ihre feinen Ohren zu viel. Das kannst du dir sicher vorstellen.»

Kuckuck nickte und streichelte Gerlinde über die Flügel. Die Taube blinzelte und seufzte. Dann schmiegte sie sich noch mehr an das Mädchen an.

«Und was war es?»

«Was war was?», fragte Rolli und rührte im Kessel.

«Na das Röcheln», antwortete Kuckuck. Sie setzte sich auf den alten Küchenstuhl am Fenster, von dem aus man über den Nebel hinweg sehen konnte.

«Das Meer ist verschwunden», stellte sie erschrocken fest.

«Wann es nur das wäre», seufzte Rolli. Er rollte zur Balkontür. Nun sah Kuckuck, was Gerlinde so erschüttert hatte. Vor der Tür stand ein Pferd.

«Aber Wie ist das denn hierher gekommen?», fragte sie.

«Es muss sich im Nebel verirrt haben. Erschöpft hat es sich dann wohl auf die Nebelbank gesetzt. Und Als es das Nebelhorn gehört hat, hat es geantwortet. Leider tat der Nebel dem Tier gar nicht gut. Schrecklich erkältet hat es sich. Hustet und Halsweh hat es.»

Kuckuck sah nach draussen. «Das arme Tier.»

« Das arme Tier? Das arme Tier? Und was ist mit mir? Um mich wird sich nicht gekümmert. Ohnmächtig bin ich. Aber nein, da wird für ein röchelndes Pferd Suppe gekocht. Und der Nebel, der schreckliche Nebel wird mehr und mehr.» Gerlinde drehte sich auf Kuckucks Händen im Kreis. Und liess sich theatralisch fallen.

«Aber ich sehe doch auch nach dir», sagte Rolli. «Du weisst doch aber auch, das so eine Nebelgrippe nur mit Nebelsuppe besser wird. Und dazu muss ich eben Nebelkraut kochen.

Mit Kartoffeln und Salbei, hmmm. Das schmeckt gut.» Rolli lächelte. Er schob sich die Strickmütze auf dem Kopf zurecht, kostete die Suppe, die in kleinen Dunstfetzen vom Löffel tropfte und schloss träumerisch die Augen.

«Nebelsuppe, da stecken tausend Träume drin», sagte er nun leise zu Kuckuck.

«Aber das Pferd?» Kuckuck sah vom Löffel zum dem grossen, braun geschecktem Tier, das zur Tür hinein sah.

Seine Augen waren glasig und der Kopf hing schwer am Hals herunter.

«Nebelsuppe hin oder her. Auch wenn der Nebel hier drin fast noch dichter ist, als draussen, man muss was gegen die Halsschmerzen tun. Bei der kalten und feuchten Luft wird das nicht besser und die Suppe kann es dann auch nicht schlucken.» Kuckuck zog ihre dicke Strickjacke aus. Im Leuchtturm war es warm, da brauchte sie die eh nicht.

Sie wickelte die Jacke um den Hals des Pferdes. Gerlinde war empört auf den Ofen geflattert. Nun kümmerte sich auch noch das Mädchen um das Pferd. Und dann, wenn es gesund war, das, das Tier, sollte es dann etwa bleiben?

Gerlinde räusperte sich vernehmlich. Drehte allen den Rücken zu und machte es sich um Strickkörbchen bequem.

Nun schlürfte das Pferd Suppe aus dem grossen Topf.

«Ein Benehmen ist das.» Die Taube plusterte sich auf und begann das ihre Federn in Ordnung zu bringen.

«Meinst du es wird bald besser?», fragte Kuckuck.

«Klar doch.» Rolli nickte. Er goss sich und Kuckuck Tee ein. Dann sassen sie beieinander und beobachteten die kleinen Wölkchen, die aus den Teetassen stiegen.

«Du, Rolli?»

«Ja?»

«Kommt der Nebel immer von der Suppe?», fragte Kuckuck. Rolli kratzte sich den wilden Bart.

«Hmmm. Manchmal. Manchmal ja. Manchmal nein. So ist das mit dem Nebel. Man weiss nie wann er kommt. Woher er kommt. Und was er mitbringt.»

Vor dem Leuchtturm wurde der Nebel immer dichter, während sich drinnen die Schwaden langsam völlig auflösten.

Leise schnarchte Gerlinde in ihrem Körbchen und träumte vom Stadtleben und dem guten alten Zeiten.

Nach der dritten Tasse Tee, die Rolli und Kuckuck fast völlig schweigsam getrunken hatten, löste sich auch draussen der Nebel auf. Das Meer kehrte zurück und mit ihm die Wellen und die Sturmvögel.

Kuckuck sah auf den Balkon.

«Jetzt ist es weg.»

«Ja. Es ist weg. Aber deine Jacke hat es da gelassen.» Rolli nahm die blaue Strickjacke und brachte sie Kuckuck.

Das Mädchen roch daran. Sie duftete nach feuchten Gras, Blumen und nach einem Pferd.