Der Geist der Weihnacht

Der Geist der Weihnacht

Der Geist der Weihnacht


Es klingelt Sturm. Ding dong ding dong ding dong. Das passt jetzt noch. Die Kinder rennen gerade wild durchs Haus und bewerfen sich mit Mehlgranaten, die Weihnachts-CD hakt im CD-Spieler und spielt immer die gleiche Stelle, „… in himmlischer Ruhu...in himmlischer Ruhu,...in himmlischer Ruhu,…“  und unterm Küchentisch sitzt Luzi und schleckt die Teigschüssel aus, die treuen Hundeaugen mit Plätzchenteig beschmiert. Und ich? Ich stehe zwischen den Einkaufstaschen und suche in dem Chaos Platz für die Einkäufe.

Die Kinder sind ja schon alt genug, um selbstständig Plätzchen auszustechen, dachte ich. Aber da habe ich mich wohl geirrt. Ich hoffte in Ruhe einkaufen zu können, während die Kinder fröhliche Weihnachtslieder singend Sterne und Glöckchen ausstechen. Doch die Küche ist ein einziges Chaos. Mehl bedeckt so gut wie den gesamten Boden, die Arbeitsfläche sowieso, den Herd, den Tisch und sogar Luzi, die immer noch unterm Tisch sitzt und sich nun um die leere Schüssel zusammengerollt hat. Kekse sehe ich nirgends. Die Bleche stehen in der Küche verteilt, aber leer. Eierschachteln, Butterklümpchen, Zuckerberge, alles liegt auf dem Boden. In der Ecke neben dem Kühlschrank entdecke ich dann meine jüngste Tochter.

„Was machst du denn da?“, frage ich sie fürsorglich. Ich hocke mich zu der kleinen Gestalt, die über und über mit Mehl bestreut ist.

„Ich bastle Sterne für den Weihnachtsmann. Schau mal, die habe ich alle schon ausgeschnitten.“ Mia zeigt mit ihren kleinen Fingern auf einen Haufen weisser Stofffetzen. Als ich mir die „Sterne“ näher ansehe, erkenne ich das Muster meiner Festtagstischdecke, meiner einzigen Festtagstischdecke, meiner einzigen Tischdecke! Doch bevor ich panisch werden kann, reisst mich das hartnäckige Klingeln der Türglocke auf den bemehlten Fussboden der Tatsachen zurück. Es ist Weihnachten, doch von Besinnlichkeit keine Spur. Dafür meine Fussabdrücke im winterlichen Mehlschneegebirge, auf dem silbrige Dekosterne funkeln. Da wird mir wieder bewusst, warum ich Weihnachten hasse. Es ist Stress. Es ist immer Stress, egal wie man es vorher plant, oder machen will. Es wird jedes Jahr ein Wettrennen, nicht nur um die Weihnachtsgeschenke. In der Küche tobt jedes Jahr eine wahre Backhölle, weil ausser zum Naschen und mit Zutaten herum zu werfen, niemand den Weg in die Küche findet, und ich vor allem alleine stehe und ans kochen will ich gar nicht denken. Und dann am Weihnachtstag stochern die Verwandten mit pikiertem Lächeln in meinem tagelang vorbereiteten und zubereiteten Weihnachtsessen herum. Ich habe da keine Lust zu, können wir nicht einfach wegfahren?, hatte ich Martin, meinen Mann gefragt. Doch leider liebt er Weihnachten, den Plätzchenduft, die Vorfreude der Kinder, mit den Verwanden bei einem Glas Punsch zusammensitzen und plaudern.

Ding dong, ding dong, ding dong. Ich eile zur Tür und rutschte dabei auf dem Mehl aus. Um mich stobt es winterlich auf. Mist. Wer kann das nur sein? Meine Eltern jedenfalls nicht, die wollten erst morgen zum Weihnachtsessen kommen, auch meine Schwiegereltern erwarten wir noch nicht so früh. Mein Mann arbeitet noch bis Mittag, damit ich zu Hause meine Ruhe zum Vorbereiten habe, wie er sagt und meine Schwester kommt auch immer erst zur Bescherung am Abend.

Ich reisse genervt die schwere Eingangstür auf und schreie über den Lärm, der die Treppe herunterquilt hinweg „WAAAS“.

Vor der Tür steht ein kleiner hagerer Mann. Er trägt Filzpantoffeln und einen dunkelgrünen Bademantel. Aus seinem faltigen Gesicht leuchten zwei blaue Augen spitzbübisch hervor. Er drängt sich an mir vorbei ins Haus. Mit seiner rechten Hand zwirbelt er einen gewachsten Oberlippenbart. Der Mann reicht mir gerade mal bis zur Brust. Er geht gebeugt, den linken Arm auf dem Rücken.

„Ich seh schon, ich seh schon.“, murmelt er vor sich hin.

„Was sehen sie?“, frage ich verwirrt. Ich bleibe wie angewurzelt im Flur stehen, dabei fällt mein Blick auf mein Spiegelbild. Oh Gott, wie seh ich denn aus? Haarsträhnen wuchern wild aus meiner heute morgen noch so perfekten Frisur. Mehlstaub liegt auf meinen Haaren und meiner Haut. Ich sehe um mindestens zehn Jahre älter aus. Schnell versuche ich die Haare zu bändigen, bevor ich in respektvollen aber bestimmten Ton frage, „Was wollen sie hier?“. Doch der Mann dreht nur an seinem Bart und lächelt mich an.

Er schlürft in seinen Pantoffeln in die Küche.

„Wer ist das?“ , kommt ein Flüstern von der Treppe. Im Haus ist es ganz still geworden, das fällt mir erst jetzt auf. Meine zwei Grossen kommen langsam die Treppe herunter und stellen sich hinter mich. Sie beobachten das kleine Männchen, wie es durch die Mehllandschaft der Küche gleitet. Wir folgen ihm leise. Ich fasse nach hinten und halte die Hand meiner Tochter. Ein leichter Schauer lässt mich frösteln.

Der alte Mann rutscht über den bemehlten Küchenboden, wie auf einer Eisbahn. Dann setzt er sich auf die Bank unterm Fenster. Er baumelt mit den Beinen und sieht zu uns herüber.

Dann hebt er die Hände und winkt. Seine Arme machen eine einladende Bewegung. Sein freundliches Lächeln löst unsere Erstarrung. Als wir näher treten, zeigt er auf den Fussboden und schüttelt energisch den Kopf.

„Nein“, murmel ich. „Nein, das geht nicht. Ich weiss. Aber,...“ , sage ich, doch er winkt ab und klatscht in die Hände. Als nichts passiert, klatscht er noch einmal. Er wedelt mit den Händen, die Handflächen nach oben, vor sich hoch und runter. Und da verstehen wir. Langsam hocke ich mich hin und sammle die Butter- und Zuckerverpackungen auf. Luise meine Älteste, deren Hand ich die ganze Zeit gehalten hatte, hockt sich neben mich und kehrt mit dem, Handfeger das Mehl zusammen.

„Wer ist das?“, fragt sie leise. Ich kann nur mit den Schultern zucken. Ich weiss nicht wer dieser komische Mann ist und was er hier will. Wie verzaubert hilft nun auch Benny, mein grosser Sohn mit. Er kratzt die Butterflocken vom Boden und der Arbeitsfläche. Das leise Schaben, was dabei entsteht unterstreicht die Stille, die nun herrscht.

Als ich die Teigschüssel zwischen den Pfoten meines schlafenden Hundes vorsichtig wegziehe, ich will ihn ja nicht wecken, winkt der Mann mich zu sich. Er hält auffordernd die Hände ausgestreckt. Ich will ihm die leere Schüssel geben, doch er schüttelt den Kopf. Dann zeigt er auf die grosse Keksdose, die nur halbvoll ist und winkt wieder. Ich runzle die Stirn. Warum soll ich ihm die Keksdose geben? Doch ich gebe sie ihm schliesslich. Dann winkt er mich mit der ausgeschleckten Schüssel zum Spülbecken. Dort stapeln sich nicht nur Backutensil sondern auch noch das Frühstücksgeschirr. Also beginne ich in meiner Verwirrung abzuwaschen. Ich tauche meine Hände in das heisse Wasser und lausche der leisen Weihnachtsmusik. Da erst bemerke ich, dass der CD-Spieler wieder funktioniert. Eine ruhige entspannte, ja fast feiertägliche Stimmung senkt sich über mich. Mit langsamen besinnlichen Bewegungen spüle ich Tassen und Teller, Schüsseln und Messer. Hinter mir räumen die Kinder die Küche auf. Es ist alles sehr friedlich und ich geniesse diese Ruhe. Doch plötzlich höre ich ein Geräusch. Zwischen zwei Liedern höre ich ein leises Knuspern. Langsam drehe ich mich um. Das darf jetzt nicht wahr sein. Da sitzt der kleine Mann freudestrahlend auf der Bank und isst ein Plätzchen nach dem anderen. Als ich in die Dose sehen, ist sie fast leer. Ich bin wütend. Gerade will ich diesen frechen Alten aus meinem Haus werfen. Da klingelt es wieder an der Tür. Ich drohe ihm noch mit dem Finger, gehe dann aber die Tür öffnen. Da stehen sie, meine Eltern, meine Schwiegereltern und meine Schwester mit ihrer Tochter und hinter der Meute sehe ich meinen Mann. Er hebt die Schultern und schüttelt ratlos den Kopf.

Was soll‘s, denke ich. Ich trockne mir die Hände an einem Küchentuch ab und begrüsse nun freudestrahlend den viel zu frühen Besuch. Oje. Wie sieht die Küche jetzt wohl aus? Schiesst es mir durch den Kopf. Nichts ist vorbereitet. Ich wollte eigentlich nur eine Tiefkühlpizza aufbacken. Mit Gästen zum Mittag hatte ich nicht gerechnet. Ich drehe mich vorsichtig um. Doch ich kann nichts sehen. Hinter mir stehen meine beiden Grossen. Zwischen meinen Beinen schiebt sich nun Mia hindurch und überreicht jedem Gast einen perfekten gebastelten Stern.

Ich gehe langsam zur Küche. Wie soll ich den fremden Mann in meiner Küche erklären, wie das noch immer nicht ganz weggeschaffte Chaos? Mussten alle gerade jetzt kommen? Tränen steigen mir in die Augen, als meine Finger sich um die Klinke der Küchentür schliessen. Da legt sich eine Hand auf meine Schulter.

„Wir gehen erst einmal ins Wohnzimmer. Dann kannst du in Ruhe den Tisch in der Küche decken.“, sagt mein Mann. Er schieb alle ins Wohnzimmer, doch die Weihnachtsmeute bleibt wie angewurzelt stehen. Der Baum! Ich liess das Geschirrtuch fallen und halte mir die Hände vor den Mund. Ich hatte den Baum vergessen. Der steht noch auf der Terrasse im Netz. Gestern wollte ich ihn eigentlich schon mal auspacken, damit er sich ausbreiten konnte. Und nun, kein Baum. Können wir Weihnachten nicht einfach verschieben? Tränen kullern mir über die Wangen und ich schlucke einen dicken Trauerkloss die Kehle herunter.

„Der ist ja,…. wunderschön.“, staunte meine Mutter. „Karin, hast du den allein geschmückt?

„Ich,..ich,...“, stottere ich. Ich dränge mich an meiner Mutter vorbei und da sehe ich den wohl schönsten Weihnachtsbaum, den es gibt. Kleine Engelchen wippten an den Ästen, zauberhafte filigrane Kugeln glänzten zwischen den dunklen Nadeln und ein Leuchten lässt den ganzen Baum erstrahlen. Kitschig, ja. Aber wunderbar weihnachtlich. Es ist wie in einem Weihnachtswerbespot nur eben bei uns im Wohnzimmer.

Alle setzen sich und nehmen sich ein Glas Punsch. Ich gehe zaghaft auf die Küchentür zu. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals. Ich hatte fast schon vergessen, dass ein fremder alter Mann im Bademantel in meiner Küche sitzt und die letzten Plätzchen aus der Keksdose knabbert, um ihn herum ein kleines Mehlchaos.

Vorsichtig und ganz leise öffne ich die Küchentür. Ich will nicht, dass meine Mutter und meine Schwiegermutter gleich aufspringen um mir zu helfen. Diese Sache muss ich allein klären. Es war ja mein Problem. Schliesslich habe ich den Mann ins Haus gelassen.

Ich drehe mich elegant durch den winzigen Spalt, in die Küche. Doch schon stehen sie hinter mir und werfen die Tür auf.

„Was sollen wir tun?“, platzen sie im Chor hervor und schieben sich arbeitswüdig die Ärmel ihrer weissen Blusen hoch. Doch dann tritt Stille ein. Eine feierliche Stille. Ich sehe in die entgeisterten Gesichter meiner Ahnen. Dann drehe ich mich um und will gerade eine Erklärung beginnen. Doch was soll ich sagen? Ich kann mir das ja selbst nicht erklären. In meiner Küche steht auf dem Tisch, mit einwandfreier Tischdecke, ein duftendes Weihnachtsessen. Suppenschüsseln, Salattellern und sogar ein leckeres Dessert. Wo kommt das jetzt her? Die Küche hingegen sieht makellos sauber aus. Hier hat keiner gekocht. Das weiss gerade ich sehr genau.

Aber… aber, kein alter Mann in Filzpantoffeln, kein grüner Bademantel, keine Krume Mehl am Boden. Und auf der Arbeitsfläche steht eine volle Keksdose mit eine Weihnachtskarte daneben. „Fröhliche Weihnachten! PS: Sie backen sehr leckere Plätzchen K.R.“

„K Punkt R Punkt“, murmelte ich leise mit der Karte in der Hand. Mia stellte sich neben mich.

„Na, Knecht Rubrecht“, sagt sie und lächelt mich an.

Knecht Rubrecht? Den Weihnachtsgeist hatte ich mir irgendwie anders vorgestellt.