Himbeerrot

Himbeerrot

«Einatmen. Ausatmen. Einatmen. Ausatmen.»

Nadine nahm die Brille von der Nase und verrieb die Wimperntusche um die Augen. Die Hände auf den Augen lauschte sie in das einzige, was sie beruhigen konnte, in die Tiefen ihres Gartens.

Grillen zirpten, Amseln, Bienen und in der Ferne rauschten Autos vorbei. Sie sass in ihrer Idylle, mit schwarz geränderten Augen und tiefen Falten im Gesicht. Sie hielt es einfach nicht mehr aus.

Wenn sie nur rauchen würde, oder trinken, vielleicht hätte ihr das geholfen. Doch ihre Probleme konnten weder Zigaretten, noch Alkohol lösen. Aber was konnte ihr dann helfen?

Sie nahm ihr Handy und beendete die Sitzung. Seit drei Wochen versuchte sie es mit autogenem Training, mit Atemübungen und Yoga. Doch das Atmen fiel ihr immer schwerer. Ihre Muskeln waren verspannt und taten bei jeder Übung weh und abschalten gelang ihr sowieso nicht.

Wie sollte sie auch abschalten können, wenn sich der Papierkram in der Schublade türmte, wenn der Druck von allen Seiten immer grösser wurde? Wie konnte sie entspannen, wenn alle Welt denk, sie wüssten was das Beste für ihr Kind sei.

Nadine zog die Schuhe aus und ging mit nackten Füssen ins hohe Gras. Der Garten war eine grüne Wildnis. Melanies Dreirad stand irgendwo hinter den Himbeerbüschen. Der Sandkasten war überwuchert und nach Beeten suchte man vergebens.

Aber es gab Blumen. Duftenden Flieder und Pfingstrosen überragten die hohen Gräser, die im Wind wippten.

Der Garten war ein Paradies. Melanie liebte den Garten. Mit ihren Händen fuhr sie über die Ähren der Gräser, streifte Blütenblätter und Zweige. Nahm mit den Händen Dinge wahr, für die andere keinen Sinn mehr hatten.

Oft hatte Nadine ihrer Tochter dabei zugesehen, wie sie sich ins Gras hockte und Stundenlang eine Ameise oder eine Spinne beobachtete. Ihre Auffassung des Lebens war eine andere. Nadine wusste das. Sie spürte, wie es ihrer Tochter ging, auch wenn Melanie kein einziges Wort sprach. Wenn ihre Mimik nur wenige Ausdrücke kannte. Nadine wusste genau, was Melanie gerade bewegte, weil sie sie kannte. Weil sie wusste, was im Herzen ihrer Tochter ankam.

Melanies Kopf funktionierte anders. Auch das wusste Nadine. Sie erinnerte sich noch sehr gut an den Tag, als ihr bewusst wurde, dass ihre Tochter anders war. Und plötzlich war alles anders. Auch die Beziehung zu Andreas änderte sich. Der Abstand zu ihren Eltern wuchs ebenfalls und dann war da noch Sina.

Sina, die nichts für all das konnte. Die da war und damit Leben musste, dass ihre Schwester anders war, obwohl sie das nicht verstand. Denn für sie war Melanie nicht anders. Sie war eben so, wie sie war. Konnten das denn die anderen nicht verstehen?

Das fragte sich Nadine auch. Wieso verstand sie niemand?

Alles begann im September. Es ist nun ziemlich genau sechs Jahre her. Sechs Jahre! Unglaublich. Kämpfte sie jetzt wirklich schon sechs Jahre?

Überglücklich war sie damals, als sie mit der neugeborenen Sina aus dem Krankenhaus kam. Mit Herzklopfen und diesem Strahlen junger Mütter betrat sie das Haus. Melanie sass auf ihrem Schaukelpferd und wippte. Sie war vor einigen Wochen zwei Jahre alt geworden. Noch sprach sie kein Wort. Doch das gab es manchmal.

Mit dem Bündel in den Armen ging die glückliche Mutter auf ihre Tochter zu.

«Schau mal, Melanie», hatte sie gesagt und ihr dann das Baby gezeigt, das in eine weiche, rosa Decke eingewickelt war.

Das Mädchen mit den braunen, wilden Locken sah lange das an, was ihre Mutter ihr hinhielt. Dann streckte sie ihre Finger aus. Ein kaum sichtbares Zucken umspielte ihre Mundwinkel. Und dann berührte sie die Decke. Sie streichelte sie und rieb schliesslich ihre Wange an der Decke. Das Baby darin schien sie nicht wahrzunehmen. Auch dann nicht, als Nadine ihre Hand zu den winzigen Fingern ihrer kleinen Schwester führte.

Sie versuchte mit vielen Worten zu erklären, was eigentlich klar war.

«Das ist deine kleine Schwester, Sina. Sie ist noch ein Baby.» Doch Melanie zeigte kein Interesse. Sie begann wieder zu wippen.

Man konnte nicht sagen, dass Melanie ihre Schwester nicht mochte. Doch sie nahm das neue Mitglied der Familie nur sehr verzögert wahr. Langsam, nach und nach gewöhnte sie sich an Sina. Und das sie nun immer da war und Mama brauchte, war für Melanie kein Problem.

Bekannte hatte damals gesagt, Melanie wäre eifersüchtig auf Sina, darum spräche sie nicht und würde die kleine Schwester ignorieren. Doch so war das nicht. Melanie ignorierte keineswegs das neue Kind. Sie beobachtete sie. Es war, als müsse sie sich ganz langsam daran gewöhnen.

Sina wuchs schnell heran. Bald schon begann sie mir brabbeln. Krabbelte hinter ihrer Mama hinter her und versuchte auch immer wieder Kontakt mit Melanie aufzunehmen.

Babys sind neugierig und sehr offen. Nadine bemerkte die kleinen Unterschiede in der Entwicklung der beiden Mädchen. Fasziniert von der Vielfalt der Mimik und der Möglichkeiten sich auszudrücken, musste sie sich eingestehen, dass Melanie anders war, ganz anders.

Stundenlang konnte sie zufrieden auf dem Schaukelpferd sitzen und wippen. Sina wurde schnell ungeduldig, wollte immer wieder neue Sachen machen, Dinge ausprobieren, die für Melanie absurd erschienen.

Sina warf Teller und Löffel vom Tisch, während Melanie mit ihrem Finger langsam in der Marmelade auf ihrem Brot herumrührte. Wenn Nadine dann den Teller und den Löffel zurück stellte, warf Sina etwas anderes runter. Sie beobachtete dabei die Dinge, wie sie fielen und welche Geräusche sie machten und wie ihre Mama darauf reagierte.

Melanie starrte den Teller an. Nahm den Löffel und rührte auf dem leeren Teller herum. Klapperte gegen den Teller und blinzelte dann erschrocken mit den Augen.

Sina gefiel das. Sie freute sich und schlug mit den Händen auf den Tisch.

Es waren die letzten friedlichen Momente in ihrem Leben gewesen. Ein paar Wochen vor Melanies dritten Geburtstags wurde Nadine zu einem Gespräch in die Kita gerufen.

Erschlagen kam sie zwei Stunden später zurück, mit verquollenen Augen und einem Stein auf der Brust, der von nun an dort sitzen würde.

Sie hatten auf sie eingeredet. Zu fünft sassen sie vor ihr, die Kitaleiterin und eine Kollegin, der Schulratspräsident, der Schulpsychologe und eine Therapeutin.

Zu Hause fiel sie Andreas in die Arme und weinte, weinte sich in den Schlaf. Als sie ruhiger atmete und Andreas dachte, sie würde schlafen, murmelte er, «Ich hab es immer gewusst.» Er strich ihr übers Haar und ging hinaus.

Es begann ein endloser Kampf. Von einem Arzt zum Anderen. Von einem Therapeuten zur nächsten Therapeutin. Therapien, Sprachförderung, Motoriktraining, sogar Medikamente wurden an Melanie ausprobiert. Und Nadine war immer dabei. Ging mit ihr zu jeder Sitzung, zu jedem Gespräch und hoffte damit ihrer Tochter zu helfen. Doch Melanie hatte ihr eigenes Tempo. Sie lernte, was sie brauchte. Nicht mehr und nicht weniger. Mit Sina kam sie immer besser zurecht, je älter Sina wurde. Sie spielten häufig im Garten. Versteckten sich oder naschten Himbeeren bis ihre Münder ganz rot davon wurden. Von Sina lernte Melanie das Meiste. Mimik und Ausdruck. Gefühle und Laute und vor allem Lachen.

Es war ein langer Kampf gewesen, doch Letztendlich durfte Melanie mit Sina in den Kindergarten gehen. Gemeinsam war das kein Problem. Doch Sina entwickelte sich weiter. Was man von Melanie augenscheinlich nicht sagen konnte.

«Sie macht keine Fortschritte. Wir können sie nicht entsprechend fördern», sagte die Schulleiterin letzten Freitag in einem der vielen Gespräche, die Nadine immer wieder führen musste.

«Was will sie damit sagen», schrie sie Andreas an, der resigniert die Schultern hob.

«Sie wollen doch nur das Beste für Melanie», sagte er und ging auf sie zu. Die letzten Jahre hatten ihn frühzeitig ergraut. Doch das stand ihm gut. Der grosse, schlanke Mann, den Nadine mehr als 15 Jahre kannte, war ihr fremd geworden. Seit der Diagnose entwickelte sich ihre Partnerschaft auseinander. Andreas arbeitete viel, hielt die Familie zusammen, versuchte aber auch die andere Seite zu verstehen.

Er sah, wie sich Nadine veränderte. Wie sie sich ganz in der Aufgabe, Melanie in diese Welt zu integrieren, auflöste. Er liebte Nadine, die kleine, blasse Frau mit den kurzen, braunen Locken. Die Mädchen hatten diese Locken geerbt. Wie überhaupt alles von ihr. Ihre Art zu gehen, sich zu bewegen, die Welt wahrnehmen.

Nadine war lebenslustig und naturverbunden gewesen. Sie wollten reisen und die Welt entdecken. Dann kamen die Kinder und das Reisen wurde verschoben. Doch er liebte die liebevolle Mutter in Nadine fast noch mehr, als die spontane, quirlige Frau der ersten Jahre. Daher zerriess es ihm das Herz, wie sie litt. Wie sie kämpfte und gegensteuerte. Doch sie schien diesen Kahn allein lenken zu wollen.

Anfangs redeten sie lange miteinander. Sie informierten sich, gingen sogar gemeinsam zu Gesprächen. Doch Andreas sah manche Dinge anders. Das Leben ging schliesslich weiter. Für alle. Er sah, dass die Situation Nadine häufig überforderte. Nicht das Leben mit Melanie. Aber das drumherum.

Sie war seine Tochter und er liebte sie ebenso sehr, wie er auch Sina liebte. Und er verstand Nadine, verstand ihren Kampf für ein normales Leben für ihre Tochter. Aber er wollte nicht, dass dieser Kampf genau das kaputt machte. Ein normales Leben.

Sie hatten es versucht. All die Jahre hatte er sie unterstützt, hatte sich um Sina gekümmert, wenn sie mit Melanie zur Ergotherapie oder irgendeiner anderen Therapie musste. Er war für sie da. Für sie und seine Familie.

Doch nun stand er ratlos vor ihr. Die Schule hatte aufgegeben. Sie konnten Melanie nicht mehr unterstützen. Ihre Möglichkeiten der individuellen Förderung waren begrenzt. Leider. Traurig sah er seiner Frau in die Augen. Er sah, wie sie innerlich zerbrach.

«Woher wollen sie denn wissen, was für sie gut ist? Sie kennen Melanie nicht.» Nadine steigerte sich wie immer in das Thema rein, als gäbe es nur noch sie und Melanie.

«Sie haben es versucht, Nadine. Sie haben ihr wertvolle Jahre geschenkt.» Er ging auf sie zu um, sie in den Arm zu nehmen. Doch Nadine drehte sich weg.

«Geschenkt? Was ist das für ein Geschenk. Wenn man es ihr jetzt wieder entreisst? Hier du darfst noch ein paar Jahre unter uns «Normalen» leben. Dann ist aber Schluss und du musst zu den Anderen ins Heim.

Weggesperrt. Mit der Ausrede, sie dort besser zu fördern. Aber für welches Leben denn? Sicher kein Leben in der Gesellschaft. Ich sag es dir. Es wird ein Leben in Werkstätten und Heimen sein.

Das ist Diskriminierung. Die Gesellschaft ist nicht fähig sich anzupassen, zu öffnen. Nein, der Mensch muss sich anpassen. Und wenn er es nicht kann, wenn er die Erwartungen nicht erfüllt, wird er weggesperrt.

«Ich kann nicht mehr», sagte sie schliesslich kraftlos. «Es ist doch mein Kind, unser Kind. Wieso können andere bestimmen, was mit ihm geschieht?»

Nadine fuhr sich durch kurze Haar. Sie sank erschöpft am Kühlschrank entlang zu Boden und blieb sitzen. Tränen hatte sie längst nicht mehr.

Andreas suchte nach Worten. Doch er fand keine. Er berührte sie sanft am Arm. Doch er spürte, dass er keinen Zugang mehr zu ihr fand. Für Nadine drehte sich alles nur noch um Melanie. Für ihn hatte sie keine Zeit mehr. Auch ihm tat es weh, wenn Melanie in ein Heim für Kinder mit Behinderung abgeschoben werden sollte. Doch langsam glaubte er, es wäre für seine Familie das Beste. Seine Frau zerbrach am Druck der Gesellschaft Menschen, die andere Bedürfnisse haben, auszugrenzen. Aber sie konnten die Gesellschaft nicht ändern. Es brauchte mehr als eine Mutter und ein Kind, um etwas zu ändern.

Das hatte sich Nadine auch schon überlegt. Sie versuchte Freunde und Nachbarn zu mobilisieren. Unterstützung von allen Seiten für mehr Integration, für Inklusion. Unsere Gesellschaft ist doch nicht perfekt, genauso wenig, wie wir perfekt sind. Der Unterschied macht uns doch zu Individuen.

Am späten Abend des 30ten Juni fand Nadine eine Gruppe, die genau wie sie Inklusion forderte. Sie schrieb sie an und bekam schnell Antwort.

Leider war diese sehr ernüchternd. Man heulte sich aus, sprach über die Probleme, aber ändern konnte man nichts.

«Ändern kann man nichts», murmelte sie wie ein Mantra vor sich hin.

«Ändern kann man nichts.»

Also sollte Melanie ab August ihre Familie verlassen und während der Woche in einem Wohnheim leben, um dann dort in der angeschlossenen Schule ihren Bedürfnissen gerecht gefördert zu werden.

Nadine schüttelte sich. Es wollte einfach nicht in ihren Kopf, wie es sich fremde Menschen anmassen konnten, besser wissen zu wollen, was für ihre Tochter das Beste sei.

Für Nadine gab es nur noch einen Ausweg.


Andreas hielt den Brief in den zittrigen Händen.

«Ab hier geht es nicht weiter. Ich kann nicht mehr. Ich weiss nur eins. Melanie ist mein Kind und ich lasse mir von niemanden vorschreiben, was sie wann zu lernen oder zu können hat. Sie sollte nur glücklich sein. Und das war sie, die letzten acht Jahre.»


Andreas las immer wieder die Zeilen. Tränen rannen über seine Wangen, während er Sina fest an seinen Körper drückte. Nun gab es nur noch sie beide. Wie sollte er das bloss schaffen?