Über den genüsslichen Aufsteher

Über den genüsslichen Aufsteher

5:25 Uhr. Karin dreht sich auf die andere Seite. Gleich geht es los, denkt sie. Einschlafen ist nun nicht mehr möglich und das macht sie wahnsinnig. Eigentlich könnte sie bis 6:30 Uhr schlafen. Und das sagt ihr Michael auch jeden Tag. Ach, ihr Michael. Seit 16 Jahren sind sie verheiratet und sie liebt ihn jeden Tag ein bisschen mehr. Nicht, dass es am Anfang schwierig gewesen wäre ihn zu lieben. Nein, das nicht. Sie hatte sich damals sofort in seine schönen dunklen Locken und die braunen Augen verguckt. Und nach den ersten dilettantischen Flirtversuchen, war sie ihm dann hoffnungslos verfallen. So ging es beiden. Verliebt bis über beide Ohren. Dass es noch intensiver werden könnte, hätten sie nie geglaubt. Aber mit jedem Jahr, wurde ihre Zuneigung inniger.

Karin konnte sich ein Leben ohne Michael nicht mehr vorstellen. Und Michael kam erst gar nicht darauf, über so etwas nachzudenken. Wenn sie nachts schlafend nebeneinander lagen, würde sich Karin am liebsten mit Michael zu decken, ja sogar völlig mit ihm verschmelzen, wie zwei Kugeln Eis in der Sonne.

Doch wenn sich der Morgen nähert, steigt täglich eine kleine Welle Wut in Karin auf. Michaels Wecker klingelt 5:30 Uhr. Karin hat noch eine Stunde allein im Bett, doch an Schlaf ist da dann kaum noch zu denken und aus der Stunde werden schnell weniger als 45 Minuten. Denn Michael ist einer dieser genüsslichen Aufsteher. Wenn der Wecker piept, tastet er sich aus dem Schlaf über den Nachtisch und schaltet das nervtötende Geräusch ab. Aber er steht nicht auf. Nein. Er zelebriert sein Aufstehen in einem allmorgendlichen Ritual.

Er dreht sich auf den Rücken, wobei Karin seinem Ellenbogen gekonnt ausweicht. Dann werden zuerst die Zehen geknackt und die Beine gestreckt. Ein tiefer und hingebungsvoller Atemzug, den man auf gar keinen Fall leise tätigen kann, sonst ist er nicht entspannend. Dann wird weiter gestreckt, jetzt die Beine einzeln, erst rechts dann links, dann den Rücken bis zum Nacken. Ein geräuschvolles Gähnen und Ruhe. Füsse kreisen, hingebungsvoll atmen und auf die Unterarme stützen. Langsames Aufstehen rät der Arzt, oder die Werbung? Schmatzen. Atmen, denn erst beim dritten Mal ist die rituelle Tiefenatmung am wirkungsvollsten. Aufsetzen. Beine langsam auf den Boden stellen. Ausruhen. Nun wird das Gesicht minutenlang wach gerieben. Durch ein langanhaltendes Gähnen, wird der Unterkiefer aktiviert. Jetzt noch die Arme strecken, die Gelenke knacken schön rhythmisch und wenn dann alle Gelenke gelockert sind und durch wiederholtes, geräuschvolles Gähnen und hingebungsvolles Atmen, dem Eigentümer dieses, dem Schlaf entrissenen Körpers klar wird, ein Zurück ins Bett gibt es für ihn an diesem Morgen nicht mehr, ist sein Aufstehritual beendet.

Gut andere machen Workout oder gehen Joggen. Michael ist eben ein genüsslicher Aufsteher.

Karin dreht sich für die verbleibenden 40 Minuten um und hüllt sich in die Bettwärme, die Michael hinterlassen hat. Sie schafft es nochmal einzuschlafen, sogar zu träumen und wenn dann Michael sie mit einem Kuss auf die Wange weckt, hat sie ihre Wut über sein Aufstehen schon vergessen. Und so lieben sie sich weiter jeden Tag ein bisschen mehr.