Rasmus und die lange Strasse

Rasmus und die lange Strasse

Rasmus ging die Lange Strasse entlang. Wenn er von der Schule kam, ging er immer die Lange Strasse entlang. Lange Strasse. Eigentlich müsste es die Langweilige Strasse heissen, dachte Rasmus. Denn nie passierte etwas interessantes hier.

Sein Schulweg war immer langweilig, fast genauso langweilig, wie die Schule. Einmal könnte doch etwas aufregendes passieren. Vielleicht ein Banküberfall bei der Bank, wo alle Leute ihr Geld einzahlten. Der Bankräuber würde dann mit dem ganzen Geld in einem Sack über die Lange Strasse laufen. Vielleicht dachte er dabei auch, wie langweilig diese Strasse doch ist. Aber wahrscheinlich hatte der Bankräuber überhaupt keine Zeit darüber nachzudenken, denn schon stand er vor Rasmus, der ihm den Weg versperrte.

Es gab nur eine Abkürzung hier und die kannte Rasmus ganz genau. Sie führte zwischen den Gärten der alten Tante hindurch. Die alten Tanten waren schon sehr alt. Manchmal sassen sie gemeinsam auf der Veranda eines der beiden Häuser und strickten Bettsocken. Wozu Betten Socken brauchten, wusste Rasmus allerdings nicht.

Aber darüber konnte er sich ja auch keine Gedanken machen. Er stand dem Bankräuber genau gegenüber. Er sah ihm in die Augen und der Bankräuber sah Rasmus in die Augen. Doch Rasmus blinzelte nicht. Er hielt stand. Er hatte das oft schon mit dem grossen Willi geübt. Und immer war es der grosse Willi, der zuerst wegsah.

Der Bankräuber würde aufgeben müssen, denn Rasmus würde ganz sicher nicht den Weg freigeben. Heute nicht.

Aber es kam ja gar kein Bankräuber. Kein Bankräuber und auch sonst niemand. An der Abkürzung blieb Rasmus kurz stehen und grüsste die alten Tanten, die riesige Socken strickten. Das muss ein sehr grosses Bett sein, dachte Rasmus. Dann ging er weiter.

Die Abkürzung war nichts für ihn. Die kürzen nur den Weg zu den neuen Häusern ab. Er aber wohnte unten an der Strasse, in einem der alten Backsteinhäuser. Bis dahin waren es sicher noch tausend Kilometer, oder so.

Rasmus sah die Lange Strasse hinunter. Zwischen den Zaunlatten der Vorgärten lugten gelbe Narzissen und Märzenbecher. Er mochte diese Zeit. Jetzt gab es in den Vorgärten etwas zu entdecken. Kleine leuchtende Blumen, statt schwarze, nasse Erde, oder Schnee, der überall gleich aussah.

Wenn doch nur irgendetwas passieren würde, seufzte er. Und da schoss ein Mann an ihm vorbei. Merkwürdigerweise trug er ein Huhn unterm Arm. Der Mann hatte einen langen, braunen Mantel an. Leuchtend rote Haare kringelten sich auf seinem Kopf und seine Augenbrauen waren buschig und weiss.

Rasmus hatte den Mann noch nie zuvor hier gesehen. Er kann nicht von hier sein, dachte er. Aber warum trägt er denn dann ein gackerndes Huhn mit sich herum?

Der Mann war sehr schnell, aber trotzdem wirkte sein Schritt schleichend. Das alles war sehr merkwürdig.

Rasmus sah sich zu den alten Tanten um, doch die hatten nichts bemerkt. Sie stricken und plapperten fröhlich weiter. Der Mann war aber schon über den Gartenzaun des nächsten Hauses gesprungen. Und nun war alles klar. Der Mann war ein Dieb. Er hat das Huhn gestohlen und nun wollte es vielleicht noch viel mehr stehlen.

Das Huhn gackerte aufgeregt. Sein goldenes Gefieder funkelte in der Sonne. Rasmus brauchte nicht überlegen. Er musste das Huhn retten. Er sprang mit einem Satz über den Zaun, dabei zerriss er seine Hose am Po. Aber darauf konnte er jetzt nicht achten. Hier ging es um Leben und Tod.

Rasmus rannte, das ihm die Brust wehtat. Bald schon hatte er den Mann eingeholt, der hinter dem Haus in den nächsten Garten gesprungen war. Rasmus schlich unter den Himbeerbüschen hindurch. Er versuchte sich zu beruhigen. Irgendwie musste er den Mann überholen, er musste ihn überraschen, so dass er das Huhn fallenliess.

Rasmus überlegte. Er sah wie der Mann das Huhn unter seinem Mantel verstecken wollte. Er kämpfte mit dem Huhn, das sich gut zu wehren wusste. Es hackte und gackerte und schlug wild mit den Flügeln.

Das gab Rasmus die Gelegenheit sich von hinten an den Mann heran zu schleichen. Mit aller Kraft schrie Rasmus laut los. Er brüllte, als sei er ein Löwe. Ja als sei er überhaupt der König der Löwen in der afrikanischen Savanne.

Der Mann erschrak und lies das Huhn fallen. Doch das Huhn war selbst so erschrocken, dass es in Ohnmacht fiel und auf der Stelle liegen blieb. Nun war es an Rasmus. Er schnappte sich das ohnmächtige Huhn und sprang durch die Himbeerbüsche und über den Gartenzaun zurück auf die lange Strasse. Er musste das Huhn verstecken, denn der Mann war ihm schon auf den Versen. Rasmus rannte bis zur Abkürzung. Er sah sich um, dann erkannte er das weltbeste Versteck überhaupt.

Er rannte, nach dem er das Huhn versteckt hatte, die Abkürzung hinter zu den neuen Häusern. Und der Mann rannte ihm nach. Schnell wie ein Fuchs bewegte sich der Mann. Sprang auf Zaunposten und überkletterte ganze Zäune, bis er so Rasmus einholte.

In Rasmus Brust klopfte sein Herz. Was würde nun passieren? Was würde der Dieb machen? Rasmus spürte den heissen, stinkenden Atem des Diebes. Gleich, gleich würde er ihn packen und dann?

Hinter Rasmus raschelte etwas in der Buchenhecke. Langsam, ganz langsam drehte sich Rasmus um. Hinter ihm standen breit grinsend die alten Tanten.

Sie hielten die grosse Bettsocke in den Händen. In der Socke bewegte sich etwas. Dann steckte das Huhn langsam seinen Kopf auf der bunt geringelten Wollflut.

«Und der Dieb?», keuchte Rasmus.

«Ach, der ist im Unterholz verschwunden. Der alte Gevatter. Von Zeit zu Zeit kommt er und stiehlt uns unsere Hühner. Aber so sind sie, die Füchse. Sie müssen wohl hin und wieder ein Huhn stehlen.

Danke, dass du das hier gerettet hast», sagten die alten Tanten.

«Füchse. Ein Fuchs?» Nun verstand Rasmus gar nichts mehr. War der Dieb nur ein Fuchs gewesen?

Fuchs hin oder her. Heute war die lange Strasse, zumindest nicht langweilig gewesen.

Rasmus war schon ganz gespannt, was morgen wohl passieren würde. Er winkte den alten Tanten und dem Huhn und hüpfte fröhlich singend nach Hause.