Rasmus in der Linde

Was hatte er sich nur dabei gedacht auf die Linde zu klettern? Jungs klettern nun mal auf Bäume, hatte der grosse Willi gesagt. Egal ob klein oder gross.

Der grosse Willi konnte so schlau daher reden, der hatte ja lange Beine. Fast einen Meter massen die. Ja, wenn Rasmus so lange Beine gehabt hätte, ja dann wäre er in einem einzigen Satz auf dem Baum gewesen.

Doch Rasmus war klein. Wie acht Jahre sah er nun wirklich nicht aus. Rotzbengel, nannten sie in der Stadt. Und das war er ja auch, weil ihm fast immer Rotze aus der Nase triefte. Aber das störte Rasmus nicht.

Rotzbengel hin oder her, nun sass er in der grossen Linde und wusste nicht, wie er da wieder runter kommen sollte. Ja, er wusste ja nicht mal, wie er überhaupt herauf gekommen war.

Als alle Jungen der Strasse, und ein paar Mädchen am Nachmittag um den Baum standen und einer nach dem anderen hinauf geklettert war und wieder herunter gesprungen, da war Rasmus ganz still gewesen. Er hatte sich hinter den Mädchen versteckt, die kletterten nicht auf Bäume. Das war nämlich blöd, sagten sie. Trotzdem glotzen sie bewundernd, die Kletterer an und kicherten.

Und nun sass Rasmus auf der Linde und hielt einen dicken Ast fest umschlungen. Wenn er nun niemals mehr herunter kommen würde? Wenn niemand ihn suchen und hier oben finden würde. Ja, was dann?

Jetzt war es ganz klar, Rasmus würde hier oben bleiben und sterben. Denn es wusste niemand, dass ein kleiner blonder Rotzbengel in der Linde sass und sich am dicksten Ast festklammerte.

Sterben musste er, weil jeder einmal sterben musste, das wusste er. Aber wie das sein würde, das wusste er nicht.

Rasmus überlegte angestrengt. Doch er kannte niemanden, der schon Mal gestorben war. Naja, ausser die alte Martha. Die war so alt gewesen, dass sie eines Tages einfach tot im Bett lag.

Musste man überhaupt im Bett liegen, wenn man sterben wollte? Oder ging das auch woanders, auf der Strasse, beim Metzger, in der Schule oder eben auf einem Baum?

Nachdenklich kratze sich Rasmus das verklebte Haar.

Wenn er doch nur wüsste, wie das wäre. Er knetete sein linkes Ohr. Man müsste es einmal ausprobieren, das mit dem Sterben, dachte er. Dann könnte er allen erzählen, wie das ist und wie er das gemacht hat, oben in der Linde. Ja, da würde der grosse Willi staunen. Das hatte er nämlich noch nicht gemacht.

Aber wenn Rasmus dann gestorben war, konnte er denn überhaupt jemanden noch davon erzählen? Ach, das wusste er auch nicht. Also musste man es ausprobieren. Wo, er doch sowieso hier oben sterben würde, denn niemand wusste, dass er hier oben sass. Und früher oder später, müssen wir alle sterben, das hatte die alte Martha immer gesagt, das wusste er noch ganz genau. Und wenn man das sowieso musste, dann konnte er das auch gleich hier erledigen, fand er.

Lange dachte Rasmus nach. Es war gar nicht so einfach, das mit dem Sterben. Zu erst versuchte er die Luft anzuhalten, so lange bis er tot umfiel. Doch, als er schon ganz blass um die Nase war und seine Backen fest aufgepustet und er es fast nicht mehr aushielt, fiel ihm ein, dass wenn er jetzt tot umfiel, dann würde er ja von der Linde fallen und das tat sicher schrecklich weh. Vielleicht würde er sich dabei ein Bein brechen, oder beide Beine. Nein, das wollte er nicht.

Mit einem lauten Stöhnen der Erleichterung entwich die Luft aus seinen Backen und er atmete tief ein. Sein Körper füllte sich mit Luft und das fühlte sich richtig gut an.

Nun wieder so belebt, kramte er in seiner Hosentasche und zog eine Schnur heraus.

Rasmus hatte immer allerhand unnützes Zeug in seinen Hosentaschen. Die Schnur war aber keine unnützes Zeug. Die war sogar richtig gut. Denn jetzt konnte er sich am Baum festbinden. Nun konnte er sterben, ohne herunter zu fallen. Das war prima. Eine so gute Idee hatte er schon lange nicht mehr gehabt. Doch, da fiel ihm ein, dass er niemanden davon erzählen konnte. Er war ja ganz allein hier oben.

Rasmus prüfte seine Schnur noch einmal, dann startete er seinen zweiten Versuch. Nun wollte er es aber richtig machen. Mit Luft anhalten ging es nicht. Aber er war sich ziemlich sicher, dass wenn sein Herz nicht mehr schlug, dass er dann sterben würde.

Ja, genau, das war es. Also konzentrierte sich Rasmus ganz fest auf sein Herz und versuchte es anzuhalten. Er presste seine Lippen fest aufeinander und kniff die Augen zusammen. Sein ganzer Körper war angespannt und konzentriert, doch sein Herz schlug weiter. Rasmus konnte es jetzt sogar sehr laut schlagen hören. Es kam ihm so vor, als schlug es jetzt extra laut und fest.

Vielleicht wollte sein Herz nicht sterben? Dann eben nicht, du wirst schon sehen, früher oder später müssen wir alle sterben, sagte er sich.

Doch er band die Schnur wieder los und stopfte sie zurück in seine Hosentasche. Dabei stiessen seine Finger auf etwas Hartes. Rasmus überlegte, hatte er denn noch etwas in der Tasche? Was war es? Geschickt versuchten seine Finger nach dem Ding zu greifen und da fischten sie doch tatsächlich ein Bonbon heraus.

Das war eine Glück, dachte Rasmus und besah das kleine, in knisterndes Silberpapier eingewickelte Stück Glück. Er musste schon mal nicht verhungern, dachte er fröhlich und steckte sich das Bonbon in den Mund.

Plötzlich fühlte er sich gar nicht mehr so allein. Der Baum roch gut und ein Flüstern  huschte durch die Blätter. Wie lange sass er wohl schon hier oben? Es muss schon ganz schön lange sein, dachte Rasmus. Denn die Welt um ihn herum war geschrumpft. Das bemerkte er erst jetzt, wo er den Blick schweifen liess. Er konnte weit sehen, bis zum Kirchturm. Der war auch sehr klein, sowie die Häuser und die Schule, alles war kleiner geworden. Das konnte nur eins bedeuten, Rasmus muss gewachsen sein, seit er in der Linde sass.

Und die Linde, was war mit der Linde? Nun wo er hier oben sass, sah sie nicht mehr so gross aus, als am Nachmittag, als er unter ihr stand. Noch immer waren es ein paar Meter bis zum Boden, aber doch nicht mehr so viele, wie am Nachmittag.

Der grosse Rasmus setzte sich auf den Ast und liess seine Beine vom Ast baumeln. Wie schnell das Leben doch ging. Da denkt man Mal kurz nicht daran und schon ist man gewachsen. Und wie lang seine Beine jetzt waren? Das fiel ihm erst jetzt auf, wo sie hinunter hingen. Wenn er nicht so genau hinsah, sah es so aus, als könnte er mit den Schuhspitzen den Boden berühren.

Ach, konnte er es gut haben. Sitzt hier oben in der Linde, den Mund mit Glück gefüllt und niemand, der ihn störte. Da konnte man in aller Ruhe wachsen. Mindestens einen halben Meter, dachte er und pfiff vergnügt ein Lied.

Ein kleine schwarzbrauner Vogel landete auf seinem Ast und hüpfte darauf herum. Er neigte sein Köpfchen und sah den blonden Jungen interessiert an. Rasmus tat es ihm gleich. Auch er neigte seinen Kopf. So ging es eine Weile hin und her. Der Vogel neigte seinen Kopf nach links, dann tat das Rasmus auch. Dann neigte er ihn wieder nach rechts und der Junge machte es ihm nach.

Rasmus strahlte über das ganze Gesicht. Das Spiel gefiel ihm. Und dem Vogel schien es auch zu gefallen. Er hopste zwei Sprünge auf Rasmus zu, drehte den Kopf auf die andere Seite und flatterte einen Schritt zurück. Zwei Schritte vor, einen Schritt zurück. Fast sass er nun auf seinem Bein. Doch da ertönte ein aufgeregtes Zwitschern von einem anderen Baum und der Vogel flog davon.

Nun war Rasmus wieder allein. Er lehnte sich an den dicken Stamm und zog die Knie an. Um ihn herum war die Welt, weit und gross und er sass hier sicher und beschützt in der grossen Linde. Die Zweige um ihn herum bildeten ein richtiges kleines Haus, dachte er.

Rasmus stellte sich vor, wie es wohl wäre, hier zu wohnen. Da, ja da oben wäre sein Ausblickzimmer, denn da war die Linde licht und man hatte einen tollen Blick über die Felder und bis zum Wald. Und hier war sein Schlafzimmer. Der Ast war schön breit und am Stamm gelehnt, war es bequem. Und dort könnte seine Küche sein. Er müsste nur etwas zu Essen haben.

Ja, das wäre toll, so ein Leben im Baum. Rasmus konnte sich das sehr gut vorstellen für immer in der Linde zu wohnen. Er könnte sich Essen an die Schnur binden lassen und nach oben ziehen. Ach, und die Linde roch so gut. Und allein wäre er auch nie, denn er hatte schon die anderen Vögel entdeckt, die oben in der Baumkrone sassen und zwitscherten und am Stamm liefen Ameisen entlang.

Die Linde selbst war ja auch lebendig, sie rauschte und flüsterte. Rasmus fühlte sich plötzlich so wohl. Ja, hier würde er für immer bleiben.

«Rasmus, was machst du da oben?» Ilse stand unter der Linde und sah hinauf.

Ilse, die Quasselstrippe. Nun war sein schönes Leben auf der Linde vorbei.

«Komm runter. Ich erzähl auch niemanden, dass du in der Linde gesessen hast, wenn du jetzt bloss runter kommst. Alle suchen schon stundenlang nach dir.»

Rasmus überlegte kurz und sah an seinen Beinen entlang, die über den Ast hingen. Mindestens einen halben Meter grösser, dachte er. Rasmus holte tief Luft und schwang sich dann mit einem Satz vom Baum. Er landete direkt vor Ilse auf dem Boden. Staub wirbelte auf, als Rasmus in den Dreck fiel, doch er hatte es geschafft. Dass die Landung nicht so elegant war, war ihm egal. Er stand auf und klopfte sich den Staub von den Knie.

«Echt, du sagst es niemanden?»

«Niemanden und wenn ich, dafür sterben müsste.»

Rasmus winkte ab, «Ach so schnell stirbt man nicht», sagte er und ging neben Ilse her.

«Und alle haben nach mir gesucht?», fragte er. Ilse nickte. Dann schwiegen sie nachdenklich.

Als Ilse mit Rasmus die Strasse runter geschlendern kam, liefen alle aufgeregt auf ihn zu. Sogar der grosse Willi war erleichtert.

«Da ist er ja, der Rotzbengel.», sagte er und fuhr Rasmus brüderlich durchs Haar.