Rabenmütter

Rabenmütter

Es war ein langer und kalter Winter gewesen. Die Tiere im Wald hatten sich tief in ihre Höhlen zurückgezogen. Da tippelte ein kleines Mäuschenüber die feste Schneedecke. Es suchte nach Beeren und Früchten an den kahlen Sträuchern. Doch es fand nichts. Viel zu lang dauerte bereits der Winter. Kalter Wind blies Blätter und dürre Zweige umher. «Nein, ist das kalt heute.», jammertedas Mäuschen zitternd. «Mein Magen knurrt so laut und meine Kornkammer ist fast leer. Wie lang wird der Winter noch dauern?» Das Mäuschen suchte an gefrorenen Zweigen nach Knospen, doch diese lagen unter einer dicken Eisschicht verborgen.

«Na sieh an, ein Mäuschen. Mager ist es. Aber man kann ja nicht wählerisch sein.», flüsterte eine Füchsin, die hinter den Sträuchern lauerte. Ihr Fell hing, wie ein zu grosser Mantel über ihren knochigen Rippen. Auch sie hatte lange nichts mehr gefressen. Sie sprang aus ihrer Deckung und erwischte das Mäuschen am Schwanz.

«Bitte, Bitte liebe Füchsin. Ich habe auch schrecklichen Hunger. Sieh nur, nichts wirst du an mir haben. Bin selber nur Haut und Knochen.» Die Maus zerrte an ihrem Fell und tatsächlich, nichts als Knochen. Da verging der Füchsin der Appetit.

«Was soll ich machen, ich habe Hunger genau wie du. Du wirst es kaum merken und dann ist wenigstens dein Elend vorbei.»

«Nichts ist vorbei. In meinem Mäuseloch da liegen5 nackte kleine Mäusekinder. Sollen die verhungern, wenn ihre Mutter nicht nach Hause kommt? Ich bin schon viel zu lange weg. Sie werden erfrieren, wenn ich nicht bald zurückkomme.», sprach die Maus. Da hatte die Füchsin Mitleid mit der Maus und lies dieselaufen.

«Geh zum Feld. Körner gibt es dort keine mehr, aber Raben, jede Menge Raben.», sagte die Maus und rannte davon.

Die Füchsin leckte sich das Maul und schlich zum Feld am Waldrand. Und wirklich, dort tummelte sich eine ganze Schar schwarzer Raben. Einen müsste man doch erwischen, dachte die Füchsin. Sie ging in Deckung und sprang dann mit einem gekonnten Satz nach vorn. Und sie hatte Glück. Fürs erste war ihr Hunger gestillt. Und nicht nur das. Auf dem Feld bemerkte die Füchsin, dass die Sonne schon wärmer wurde. Am Waldrand taute auch bereits der Schnee. Hurra, der Winter war bald vorbei und dann würde es wieder genug zu fressen geben.

Die Rabenschar aber hatte es schwer getroffen. Denn die Füchsin hatte ein stattliches Männchen erwischt. Ein Männchen, dass sich bereits auf Nachwuchs gefreut hatte.

Auf einem hohen Baum hockte die Rabenmutter in ihrem Nest. Unter ihrem schwarzen Gefieder lagen gut behütet 4 grünbraune Eier.

«Krah Krah … Krah krah.», kamen die anderen Raben angeflogen und erzählten von der Füchsin. Traurig schob die Rabenmutter den Kopf unter ihr Gefieder und weinte.

14 Tage vergingen, da spürte sie plötzlich ein Knacken unter sich. Die Jungen schlüpften. Das machte die Rabenmutterwieder froh. Sie setzte sich aufrecht und stolz hin, putzte ihr Gefieder und hielt dann ganz still, um jede kleine Bewegung unter sich zu spüren. Als alle Küken geschlüpft waren, stand sie auf und besah sich ihre Kinder. Noch waren sie nackt und blind undbrauchten den Schutz ihrer Mutter. Doch wie sollte sie dann die Kleinen füttern? Und auch ihr knurrte der Magen.

Schnell hatte sich das Schlüpfen der kleinen Raben herum gesprochen und sämtliche Tanten und Nichten kamen, um die Kleinen zu bestaunen.

«Geh du nur was fressen. Wir werden uns um deine Kleinen kümmern.», sagte eine entfernte Verwandte, die dieses Jahr leider kinderlos geblieben war. Sie hockte sich auf das Nestund nickte der Mutter aufmuntern zu.

Schweren Herzens flog die Rabenmutter aus. Doch sie genoss den ersten richtigen Flug nach so langer Zeit des Brütens und Wartens. Das schwarze Federkleid glänzte in der warmen Frühlingssonne. Das belebte die Rabenmutter. So zog hoch oben ihre Kreise, flog mit Milan und Adler um die Wette und stürzte sich dann auf die ersten Bissen, die sie sah. Ohh, wie tat das gut. Gestärkt und mit Futter für ihre Kinder kam sie zum Nest zurück. Glücklich streckten sich 4 hungrige Schnäbelihr entgegen. «Mama ist ja wieder da!», schrien sie glücklich. Die Tante flog davon, versprach aber bald wiederzukommen. Und das war auch nötig. Denn die kleinen Raben hatten unablässig Hunger. Ständig mussten sie gefüttert werden.

Schon bald kam die Tante zurück undsie brachte Futter für die Rabenkinder mit. Sie putzte und beschnäbelte die Kleinen liebevoll und fürsorglich. «Flieg nur. Ich bin jetzt da und helfe dir.», sagte sie. Und wieder konnte die Rabenmutter losfliegen und selbst Nahrung suchen.

Im Nest wechselten sich nun Tanten und Nichten mit der Rabenmutter ab. Sie liebten die kleinen Rabenkinder fast genauso wie die Rabenmutter es tat.

«Sowas, nein.», sagte das Mäuschen, das die Raben beobachtet hatte. «Da fliegt die Mutter träumerisch in der Luft herum undim Nest kümmern sich andere um den Nachwuchs.»

«Was schimpfst du, Maus?», fragte die Füchsin, die mit ihren drei Jungen vor ihrer Höhle lag.

«Hast du die Rabenmutter gesehen? Sie lässt ihre Kinder von anderen füttern und behüten, während sie gemütlich am Himmel Kreise dreht. Und unser eins? Fünf hungrige Mäuler muss ich stopfen. Allein. Ich bin nur am Rennen.»

«Über Hilfe würdest du dich sicher auch freuen.», entgegnete die Füchsin und leckte sich die Pfoten.

«Ach, Hilfe. Wer soll mir denn helfen? Der Vater meiner Jungen hat sich gleich wieder vom Acker gemacht. Nein, nein. Ich schaff das auch alleine.»

«Wenn du meinst.», sagte die Füchsin. «Ist doch aber schön, wenn die anderen Raben sich auch um die Kleinen kümmern. Die Rabenmutter kann selbst etwas fressen und auch Mal fliegen. Das liegt nun mal in ihrer Natur, das Fliegen. Trotzdem sind die Kleinen nicht allein. Immer passt jemand auf, bringt sogar Futter mit und umsorgt sie. Ich fände das schön.

Wenn ich jemanden hätte, der sich um meinen Nachwuchs kümmert, während ich auf die Jagd gehe, dann würde ich mir viel mehr Zeit lassen können. Ich würde nicht das Erstbeste fangen, sondern einen richtigen Leckerbissen. Ich könnte einmal unbekümmert durch die Wiesen streifen und kilometerweit laufen, ohne Angst um meine Jungen haben zu müssen. Wenn du mich fragst, ich fände das befreiend. Und den Kleinen mangelt es ja an nichts.» Die Füchsin zupfte eines ihrer Kinder von ihrem Schwanz und setzte es ins Gras.

«Trotzdem, zu den Kindern gehört nun mal die eigenen Mutter und keine Tantenschar. Was aus denen wird, kann ich mir schon denken.», sagte die Maus entrüstet und rannte zurück in ihren Bau, von wo man bereits lautes Geschrei hörte.

«Raben, werden daraus. Raben. Was sonst.», sagte die Füchsin und leckte ihren Jungen das Fell.