Ordnung im Revier
Kommen Sie. Setzten Sie sich. Nehmen Sie sich ruhig die Zeit. Es ist so ein schöner Tag heute. Ich weiß zwar nicht, ob es bei ihnen jetzt auch ein schöner Tag ist. Aber meiner Meinung nach ist jeder Tag ein schöner Tag, auf seine ganz spezielle Art. Warum dieser schön ist? Schließen sie die Augen. Riechen sie die feuchte Luft des Waldes? In den Bergen hängt dicker Nebel, aber hier unten ist die Luft frisch und klar. Das tut richtig gut. Was ich hier tue? Nun ja, ich sitze hier auf dieser Bank, schaue mir die Berge an und lausche. Sehen sie, ich bin eigentlich Schriftstellerin. Ich wollte etwas schreiben. Darum sitze ich auf dieser Bank und lasse mich inspirieren. Dabei werden meine Nieren kalt und die Knie steif. Aber das nimmt man gerne in Kauf. Und da, sehen sie, da passiert schon was.
Letzte Nacht haben sich diese merkwürdigen Fische aus dem Fluss erhoben. Und nun schweben sie, wie Skulpturen über dem Wasser. Das wirklich merkwürdige daran ist doch ganz offensichtlich. Kein Fisch ähnelt dem anderen. Es sind völlig unterschiedliche Geschöpfe, zwar alles Fische, aber völlig anders. Was bewegte sie nun ihr vertrautes Element zu verlassen, gemeinsam? Ein verrückter Schwarm Vielgesichtiger.
Der Bürgermeister war sofort zur Stelle. Er stand in seinem gelben Tweedanzug auf der Brücke und wedelte mit seinem Regenschirm. Er hat, als Mann von Welt, immer einen Schirm dabei. Und auch der Anzug zeichnet ihn als weltgewandt aus. Es war ein schönes Schauspiel. Ein Fisch nach dem anderen entstieg dem Fluss. Erst auf Augenhöhe mit dem Bürgermeister verweilten sie. Der Bürgermeister wedelte mit seinem Schirm nach den Tieren. Er ist ein Mann der Ordnung. Wo er ist, hat Ordnung zu sein. Und Fische gehören in den Fluss.
Sein hellgelber Anzug leuchtete im fahlen Mondlicht. Für die drei Bläser vom Musikverein, die gerade das hiesige Lokal verließen, wirkte es, als tanze der Mann im Mond auf ihrer Brücke. Er dirigierte seine Tänzer im Hintergrund, die Fische, und vollführte dabei eine grazile Drehung auf einem Fuß. Doch in Wirklichkeit lehnte er sich angestrengt über die Brückenbrüstung. Auf einem Fuß balancierend, den anderen auf Hüfthöhe, als Gegengewicht zum wedelnden Arm. Er werde sie ausbürgern lassen. Schimpfte er. Wer sich nicht an die Ordnung der Gemeinde hält, muss mit einer Ausweisung rechnen. Doch der Bürgermeister redete vergeblich. Denn Fische sind bekanntlich stumm. Und in diesem Fall wohl auch taub. Sie ließen sich zumindest nicht von dem kleinen gelben Mann beeindrucken. Statt dessen drehten sie sich mit dem Wind und zeigten dem schockierten Bürgermeister die Schwanzflossen.
Inzwischen waren die Bläser heran gekommen und erkannten auch gleich das vertraute Gesicht ihres Oberhauptes. Sie grüßten freundlich und versuchten den Mann zu beschwichtigen. Doch dieser war nicht zu beruhigen. Er deutete mit wilden Gesten auf den bunten Schwarm Fische neben der Brücke.
Das kann doch nicht sein. Neben der Brücke schwebte ein Schwarm kunterbunter Fische. Sie schillerten in den prächtigsten Farben, als die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne auf ihre Schuppen fielen. Die Bläser waren sofort nüchtern. Die frische Luft und das grandiose Schauspiel hatte auch den letzten Tropfen Rotwein verscheucht. Staunend standen die drei Männer auf der Brücke. Die drei Bläser vom örtlichen Musikverein waren der harte Kern. Es gab nämlich nur noch sie. Der ganze Verein bestand aus diesen Drei, Trompete, Posaune und Horn. Doch sie ließen sich nicht als Verein vertreiben. Immerhin gab es den Verein schon 125 Jahre! Auch wenn ihre Konzerte nur noch sehr spärlich klangen, hielten sie starrsinnig an den alten Traditionen fest. Manchmal war es das reinste Jammerspiel. Beim Weihnachtskonzert in der Kirche haute der Organist, der die Bläser unterstützte, so kräftig in die Tasten, wie er nur konnte. Doch er schaffte es nicht die Leere zu füllen.
Nach jeder Probe versammelten sich alle drei Mitglieder im Lokal und tranken gemeinsam bis in die Morgenstunden. Dann traten sie den Heimweg an und sahen in dieser Nacht die Fische und ihren Dirigenten. Sofort holten sie ihre Instrumente aus den Taschen und stellten sich auf die Brücke, um das Wedeln des Bürgermeisters klangkräftig zu unterstützen.
Der Wind drehte sich. Und der Schwarm wand sich den Musikern zu. Anscheinend waren sie doch nicht taub.
Vielleicht aber mochten sie nur die Schulkinder. Gerade kamen sie mit ihren Rucksäcken um die Ecke. Noch war es Zeit bis der Schulbus sie abholte. Also warfen die Kids ihre Sachen auf die Brücke, verteilten Pausenbrote und lauschten der Musik. Dass der Bürgermeister noch immer in zähen Verhandlungen mit einem Schwarm fliegender Fische stand, interessierte sie weniger. Allein die Vielfalt der Tiere faszinierte die Jugend. Dass diese Tiere eigentlich ins Wasser gehörten, schien sie keineswegs zu stören. Rege diskutierten sie die Farbvariationen. Ob Ton in Ton grün-blau, oder die gelb-orangen Pastelltöne gefielen, war nicht der Punkt. Jeder Fisch war einzigartig. Die Strukturen der Schuppen, die bei einem Fisch stark an eine Alpkuh erinnerten, bei einem anderen an eine Frühlingswiese, begeisterte die Kinder. Noch bevor sie ihre Brote aufgegessen hatten, nahmen sie Papier und Stifte aus den Schultaschen und malten Regenbögen aus Fischen, leere Fischernetze mit glücklich darüber hinweg fliegenden Fischen und ein Augustfeuerwerk aus bunten Fischen. Im Hintergrund spielte die Dreimannkapelle sämtliche Fischerlieder, die sie konnte und der Bürgermeister…. Ach der Bürgermeister, er versuchte nun verzweifelt vom Flussufer aus die abtrünnigen zur Umkehr zu bewegen. Kleine Nieselregen ließ er empor spritzen, doch es half nichts. Unberührt schwebte der Fischschwarm über dem leise plätschernden Fluss. Es war zum verzweifeln. Er würde doch nicht etwa versagen? Auf der Höhe seines Erfolges beweisen, dass er nicht für die vorgesehene Ordnung sorgen konnte? Was würden nur die Bürger denken?
Doch die Bürger dachten nicht über den Bürgermeister nach. Sie waren viel zu beschäftigt die Fische zu bewundern. Welch ein Mut sie hatten. Einfach aus ihren bekannten Gefilden ausbrechen und Neues wagen! In einer ihnen ganz fremden Welt. Nie zuvor hatten sie diese Welt so gesehen. Aus dem Fluss heraus, durch die Wasseroberfläche muss alles nur verzerrt wahrnehmbar gewesen sein. Und doch haben sie diese Grenze der Elemente durchstoßen. Fabelhaft! Einfach fabelhaft.
Langsam ging die Sonne hinter den Bergen unter. Rote Schatten tanzten über die Gipfel. Auf der Brücke stand die kleine Kapelle und spielte noch einmal, „Ein Fisch wird kommen,...“ hunderte bemalter Blätter waren an die hölzerne Brüstung der Brücke geheftet und noch immer saßen Kinder und malten. Die Menschentraube, die sich versammelt hatte, wurde vom Eintreffen der Feuerwehr auseinander getrieben. Ratlos stand der Feuerwehrhauptmann und einziges Mitglied der Freiwilligenfeuerwehr an der Brüstung und blickte auf den Schwarm Fische. Er wusste auch nicht, was nun ausgerechnet er da tun könnte. Doch schon schob sich der Bürgermeister durch die Menge. Er entriss dem Feuerwehrhauptmann den Wasserschlauch und hielt ihn direkt auf die Fische. Eine kleine Fontäne löste sich aus dem Schlauch bevor die Wasserzufuhr abbrach. Verwirrt schaute der Bürgermeister auf den matten Feuerwehrschlauch in seiner Hand. Sie hatten gewonnen. Die Fische, die Musiker, die Kinder, die Bürger und der Feuerwehrmann. Er drehte sich um und hielt eine Willkommensansprache. Auf die Fische! Als neue Bürger unseres Ortes seien sie herzlich Willkommen! Alle applaudierten und der Jubel rollte an den Bergen hoch hinaus. Dann gingen alle endlich nach Hause. Es war ein langer Tag gewesen. Der Bürgermeister stellte seinen Schirm in den Schirmständer und hängte den Tweedanzug über den Stuhl. Die Bläser polierten ihre Instrumente, die Kinder hängten die letzten Bilder in ihren Zimmern auf, der Feuerwehrhauptmann rollte den Schlauch ordentlich zusammen und die Fische,… ja die Fische, sie kehrten in den Fluss zurück und ließen sich in den großen See treiben.