Im Bernina- Express, Eine Reiseskizze

Im Bernina- Express, Eine Reiseskizze

Seit einer Stunde zieht die verschneite Landschaft an mir vorbei. Ich sitze gemütlich im Zug und muss die Wunder der Natur einfach bestaunen, meterlange Eisbärte an den Felsen, idyllische Dörfer und auf kleinen Bergen wachen die Kirchen über ihre Gemeinden.

Kaffeeduft zieht meine Aufmerksamkeit auf sich. Was würde jetzt besser passen, als ein aromatisches Heissgetränk? Ich lasse mich zu einer kleinen Pause verleiten, einmal innehalten und geniessen. Als Autorin bin ich irgendwie immer am arbeiten. Ein Gläschen perlendem Sekt lasse ich mir ebenfalls nicht entgehen. Er rundet die vorüberziehende Idylle ab.

Was die Idylle nicht abrundet ist die Gesellschaft auf dieser Fahrt. Eine Gruppe, mehr oder weniger lustiger Mittfünfziger, die laut und überschwänglich in einer mir fremden Sprache miteinander reden. Ich vermute einen deutschen Dialekt, für mich jedoch völlig unverständlich, obwohl ich durchaus der deutschen Sprache mächtig bin und dies seit meiner Geburt. Doch gibt es noch immer Völkergruppen auf deutschem Boden, die sich nicht der deutschen Sprache bedienen, sondern zur verwirren aller, die Wörter quetschen und langziehen, ja sie förmlich auswringen, bevor sie diese aussprechen. So ist es keinem Landsmann oder auch Landsfrau möglich ihre Mitbürger zu verstehen.

Die Männer dieser Gruppe sind von einem wohl gemeintem «Bäuchlein» umgeben. Die Frauen lächeln ihrerseits müde mit ihren von Krähenfüssen umgebenen Augen über die plumpen Kommentare ihrer Männer. Jeder Baum im Schnee wird bestaunt, fotografiert und kommentiert.

Ich lehne mich zurück und versuche die Stille der winterlichen Natur zu geniessen. Wie herrlich es da draussen ist, denke ich. Fast wie im Märchen. Zarte Nebelschleier schmiegen sich an grobe Felswände, die Landschaft dazwischen wird von einer milchigen weiss-goldenen Sonne beschienen. Diese hat es gerade mit viel Mühe geschafft über die hohe Berge zu steigen, die die Wiesentäler und Schluchten umgeben.

Sieht man die Strecke nur aus der Fahrt des Zuges, so gleicht sie einer perfekt inszenierten Modellbaulandschaft, mit felsigen Tunnel und beschneiten Kiefern und Fichten. Dass es so etwas in Original gibt, ist kaum zu glauben.

Die Sonne kämpft sich durch den Hochnebel und vergoldet die felsigen Berghänge. Ich stelle fest, dass die Begeisterungsfähigkeit des Menschen keineswegs mit dem Alter nachlässt. Nur der Alltag bietet zu wenig um die Begeisterung zu nähren.

Doch jetzt hier, ist das ganz anders. Meine Zugfahrtbegleiter stehen, wie kleine Kinder am Panoramafenster und fotografieren wie wild jeden Schneehügel und jede Schlucht. Ein eindrucksvolles Schauspiel, wie ich meine. Doch mir ist das zu viel Aufregung. Ich schliesse meine Augen und geniesse das warme Licht der trüben Wintersonne und versuche die Kommentare meiner Mitreisenden auszublenden.

Die Zeit vergeht, wie im Fluge, oder besser wie im Zuge. Ich bemerke die langsame Veränderungen der Landschaft. Auch der Baustil der Häuser und Kirchen dieser Dörfer hat sich verändert. Er ist weicher mit abgenutzten Formen, flacher und runder. Ich bin nicht bewandert in Architektur und Baukunst, doch auf mich wirken sie südländisch und das trotz der Schneemassen, die sie umgeben.

Die Reisenden, die hier den Zug verlassen wollen, stapfen durch tiefen Schnee. Wir sind auf etwa 1300m Höhe. Die Sonne ist noch ebenso weit entfernt. Die Welt hat sich aber verändert, und doch bleibt sie die gleiche. Ich bin beeindruckt.

Wir fahren weiter. Eine weite Schneedecke liegt sanft über allem und in mir wächst der Wunsch diese Fahrt im Sommer zu wiederholen, um die Landschaft darunter zu entdecken.

Der Zug schlängelt sich wieder und wieder um die Berge und gräbt sich durch die Felsen hindurch. In jedem Tal ein Dorf, eine Gemeinde mit Kirchli im Zentrum. Abgeschieden.

Spontane Stille tritt ein, als die Lautsprecherdurchsagen beginnen und einiges über die Landschaft und die Sehenswürdigkeiten preisgeben. Und das Sehenswerte ist die Bahnstrecke. Über Aquädukte, durch lange Tunnel und in Schleifen führt diese einmalige Bahnstrecke seine Gäste bis nach Italien.

Auf den obersten Bergspitzen begegnen mir nun die schön bemalten Häuser der Bergbewohner. Die Fenster der Häuser sind klein und schützen vor Schnee und kalten Winde. Natursteine sind allerorts im Mauerwerk verbaut. Hier oben öffnen sich nun die engen Felsen der so eben verlassenen Schluchten in eine weite weisse Landschaft. Die hohen Bergspitzen sind nur noch kleine Hügel und man fühlt sich dem Himmel so nah. Wir sind oben angekommen.

Eine eindrückliche Stille umgibt alles. Wir fahren in 1700m Höhe. Und doch liegen weitere 500 Höhenmeter vor uns. Kann das sein? Noch höher? Steigen wir womöglich über die letzten Gipfel hinaus und sehen auf die Welt hinunter?

Noch immer führen auch Strassen hier herauf. Diese sind frei befahrbar. Die klaren Flüsse plätschern eisfrei durch den metertiefen Schnee. Ich atme auf. Meine Augen können in die Weite schweifen und sind den Wolken doch so nah.

Die Bäume hier oben, Lärchen, Kiefern, Birken sind von gedrungenem, knochigem Wuchs. Wie mag der Mensch dieser Gegend sein? Ist er, wie die ihn umgebene Natur an das raue Klima angepasst, schroff, fest verwurzelt, knochig. Oder ist er weitschauend und offenherzig, sonnig und dem Himmel so nah?

Ich bin überrascht. In den Dörfern boomt der Skitourismus. Ein krasser Gegensatz zu der unberührten Natur, die wir bis hier her durchstreift haben. Einheimische kann ich lange suchen. Die Langlaufstrecken, Wanderwegen und Pisten sind bevölkert von Urlaubern und Wintersportlern. Hotel an Hotel an Hotel an Hotel und dazwischen Schnee, viel Schnee.

So tief der Winter hier auch sein mag, ein südländischer Charme liegt in der Luft.

Noch weiter oben. Überall verlaufen Spuren im Schnee. Der Schnee ist tief, das kann man deutlich sehen. In der Ferne leuchten hellblau die Gletscher hervor. Und doch gibt es hier Leben. Überall. Die Spuren kreuzen sich und führen wieder von einander weg. Hier begegnen sich Fuchs und Hause, Rebhuhn und Iltis und sagen lebe wohl, Gevatter.

Mir wird bewusst, wir sind nie allein. Nirgends.

Wir nähern uns der Baumgrenze. Die letzten Bäume hier sind kaum noch mannshoch. Spärlich gesäte Kameraden von dürrem Wuchs. Dann nur noch Schnee und Felsen.

Ein Zauber ergreift jeden, der nun mit mir gleich auf gleich mit den hohen Gipfeln ist. Nun sind selbst die Flüsse erstarrt, ob aus Ehrerbietung oder von der Kälte, ich weiss es nicht. Die Zeit bleibt stehen. Weite Schneeebenen erstrecken sich nun unter dem flachen Himmel und über allem lächelt eine milde Sonne über die kindliche Einfalt der Schriftstellerin. Hier ist man/frau auch fern ab der Welt. Eine einzige Schneewüste. Geröll, Felsen und Schnee. Oben angekommen, Schneedünen, Gletscher und Wind bei frischen -9 Grad Celsius.

Auf über 2000m Höhe lassen sich Schneesurfer von Drachen und Gleitschirmen über den zugefrorenen Weissen See ziehen. Unglaubliche Stille, unglaubliche Weite, unberührt und einsam scheint alles. Die vereinzelten Schneesurfer wirken, wie Polarforscher auf einer Expedition. Gefrorene Wellen und Verwehungen auf der Oberfläche des Sees vollenden das Bild. Das Eis glitzert in der weiss-goldenen Sonne. Zum Ufer hin bricht es in dicke Schollen.

Vor meinem inneren Auge sehe ich Schiffe im Eis liegen, im Sturm wanken, einbrechen. Doch hier oben wird es nie ein Schiff oder Boot geben, die den unberührten See stören.

Fotopause auf 2353m Höhe mit Gletscherblick. Der Schnee ist von der trockenen Kälte pulvrig und knirscht unter den Schuhen. Ich wandere im Gänsemarsch mit den anderen am Berggrat entlang und schaue beeindruckt ins Tal hinab. Der Wind zieht und schiebt die ganze Meute schnell wieder zurück in die warmen Zugabteile.

Danach geht es bergab. Schon wenige Minuten und der Schnee verschwindet und macht braunen Grasbüschel Platz. Bald liegen graugrüne Wiesen, statt weite Schneewüsten vor mir. Der Zug wird langsamer und fährt die letzten Dörfer vor der italienischen Grenze an.

Auch ich steige hier aus, da die Einreise nach Italien im Moment erschwert ist. Das Dorf ist gastfreundlich und sonnig. Ein fast frühlingshafter Winter begrüsst mich. Kalt, aber man ahnt, dass der Winter bald sein Ende findet.

Ich freue mich auf den Halt und kehre in einer kleinen Gaststube ein.

Die einheimische Küche ist ausgezeichnet, schmackhaft und sättigend. Das Essen wird vom Wirt am Tisch serviert. Dazu kommt er mit einer grossen Pfanne und schaufelt das leckere Pastagericht auf den vorgewärmten Teller. Ich fühle mich wie zu Hause. Kaum ist der Teller zur Hälfte geleert, kommt der Wirt schon mit seiner Pfanne herbei geeilt und lädt die nächste Portion auf den Teller.

Nach dem wohligen Essen, führt mich ein Spaziergang am See entlang. Die Sonne hat sich mittlerweile hinter den hohen Felsen versteckt und es weht ein eisiger Wind. Und doch, ich habe am Ufer die erste Blume des Jahres gefunden, ein Hauch Frühling. Sonnengelb strahlt sie mich an. Und ich strahle zurück, auf die kleine gelbe Blüte, auf den See und die hohen Berge und auf einen wundervollen Tag.

Und dann geht es zurück über mächtige Schneewüsten, Skipisten und Rodelstrecken, den Hotels und durch Tunnel, über Aquädukte und Brücken, um Berge und an Felsen entlang zurück nach Hause.