Eine Tasse Kaffee

Eine Tasse Kaffee

Genüsslich stach Anita in die Torte. Sie hatte sich ein grosses Stück Zitronentorte ausgesucht. Sonnengelb, das passte. Heute war sie gut gelaunt. Hibbelig sass sie auf ihrem Stuhl in der kleinen Konditorei. Sog den Duft des Kaffees ein und genoss den Augenblick. Dann das Ritual.

Sie nahm das kleine Milchdöschen, knickte mit einem kleinen Knack die Ecke um, riess vorsichtig die bedruckte Folie, heute ein Schloss umgeben von dichtem Wald, bis zur Hälfte auf und goss langsam die Kaffeesahne in die Tasse. Sie stellte das Becherchen zur Seite und nun kam das Beste, das Rühren. Genüsslich und ganz behutsam liess sie den Löffel dreimal seine Runde in dem heissen Getränk drehen. Leise klackte dabei Metall gegen Keramik. Dann anmutig abschütteln und den letzten Tropfen am Rand der Kaffeetasse langsam abstreifen.

Und nun endlich, nun konnte sie die kleine Tasse mit beiden Händen umschliessen, ihre Wärme aufnehmen und eintauchen in den Genuss des ersten Schluckes.

Dabei holte sie tief Luft und sog das Aroma tief in ihr Inneres, bevor sie den ersten, kleinen Schluck nahm. Mmmh, ja das war ihr Morgen, ihre Zitronentorte und ein aromatischer, heisser Kaffee.

Hier sass sie jeden Dienstag Morgen, in der kleinen Konditorei. Ass ein Stück Torte und trank eine Tasse Kaffee. Dafür machte sie sich immer besonders schön zurecht. Sie zog ihren hübschen Pullover an, die etwas zu kleinen Absatzschuhe, legte einen Hauch Parfum und Lippenstift auf und steckte ihre Perlenohrringe an.

Anita atmete tief ein. Sie lächelte glücklich. Zwei Schichten Sahne, darüber ein glatter Spiegel Zitrone, luftig lockerer Biskuit, einfach himmlisch.

Sie sass und betrachtete, wie jeden Dienstag die Menschen, wie sie am Fenster vorbei rannten, zu ihren Geschäften und Besorgungen. Einige kamen rein, kauften Brot, Brötchen, Kuchen und Desserts, nickten freundlich der Frau am Fenster zu und sie, Anita grüsste zurück. Doch niemand kannte sie. Für all die Menschen, die kamen und gingen, die am Nachbartisch sassen und sich mit Freunden trafen, für all sie war Anita eine Fremde, eine Frau, wie jede andere Frau. Das tat ihr gut, dass sie sie so wahrnahmen, eine Frau, wie jede andere.

Anita aber kannte die meisten von ihnen. Kannte vielleicht nicht ihre Namen, aber sie kannte ihre Gesichter, ihre Vorlieben und Gewohnheiten, ja, manchmal sogar ihre Geschichten.

Sie hörte ihnen aufmerksam zu, wenn sie am Nebentisch sassen und redeten, über dies und das. Wie sie sich aufregten oder freuten, oder bei einem Freund ausweinten. Anita sass stets allein, stach ein kleines Stück Torte ab und schob sich genüsslich ein Brocken vom Leben in den Mund. Es war ihr Tag. Es war Dienstag.

Doch leider war irgendwann jedes Stück Torte aufgegessen, jede Tasse Kaffee ausgetrunken, auch wenn man sich extra viel Zeit liess, extra kleine Bissen nahm, extra winzige Schlucke trank.

Dann wurden ihre Bewegungen immer schwerer und langsamer. Über ihr Gesicht zog plötzlich ein trauriger Schleier. Sie schob den leeren Teller und die Tasse beiseite, legte ein paar sorgfältig abgezählte Münzen auf den Tisch und verliess schlurfenden Schrittes mit hängenden Schultern das Leben und die Konditorei.

Sie ging die 1 ½ km bis zu ihrer Wohnung zu Fuss. Blickte stur auf den Weg, der steinig und grau zu ihren Füssen dahin floss und sie weiter und weiter vom Leben entfernte.

Sie schloss die schäbige Tür auf. Trat in den kühlen, stickigen und dunklen Raum ihrer Einzimmerwohnung. Sie hatte kein Licht. Der Strom war zu teuer. Vorsichtig tastete sie sich an den Müllbergen vorbei, die sich am Boden auftürmten. Müll, den sie nicht entsorgen konnte, denn die Müllgebühr war zu teuer.

Anita legte den hübschen Pullover ab und hängte ihn mit einen Bügel an einen Haken in der Wand. Die Absatzschuhe stellte sie ordentlich darunter.

In der Küche tummelten sich Fliegen um die letzten Krümel auf dem Tisch. Die Schränke waren leer, die Fenster trist und staubig.

Anita nahm sich ein Schluck Wasser aus der Leitung und legte sich auf die fleckige Schlafcouch. Sie nahm das abgewetzte Buch, dass sie schon ein dutzend Mal gelesen hatte zur Hand und wartete auf den nächsten Dienstag.