Auf der Haifischinsel

Auf der Haifischinsel

«Herrjee,...tse, tse, tse, tse tse.» ungläubig schüttelte Rolli den Kopf und blätterte die Zeitung um.

«Was soll man dazu denn sagen? Und hier auch noch. Sieh sich das einer an.» Ein tiefes Brummen kam aus dem flauschigen Bart des alten Mannes.

«Was denn? Was?», gurrte Gerlinde. Die Taube sass auf dem Geländer vor dem Leuchtturmfenster und richtete sich mit dem Schnabel die Federn.

Gerlinde war eine vornehme Taube. Auch wenn sie hier mit dem Alten auf der Haifischinsel wohnte. Sie war damals einfach mit ihm und dem Turm umgezogen, als Rolli die Stadt verlassen und sich ein neues, ein ruhigeres Plätzchen gesucht hatte. Trotzdem war sie eine Stadttaube und das sollte man auch sehen.

«Buchstaben, Buchstaben über Buchstaben und alle in einer anderen Reihenfolge. Daraus soll nun einer schlau werden?» Der Mann rollte die Zeitung zusammen und sah durch sie hindurch.

In weiter Ferne erstreckte sich der Horizont und dazwischen Wasser, salziges, schäumendes, gurgelndes Wasser. Doch dann sah er etwas.

«Ist denn das die Möglichkeit. Nein, das kann doch gar nicht wahr sein? Oder etwa doch?» Er sah auf die Uhr an seinem Handgelenk. Dann legte er das Ohr darauf, klopfte mit dem Finger gegen das Uhrengehäuse, schlug schliesslich die Hände laut klatschend gegeneinander und lachte.

«Es muss schon wieder Donnerstag sein. Dabei sehe ich keine einzige Wolke am Himmel, woraus es blitzen und donnern könnte.» Prüfend warf der alte Mann noch einmal einen Blick durch sein Zeitungsfernrohr.

Doch dann schoss er schwungvoll um die Ecke und rief aufgeregt: «Sie kommt. Sie kommt». Er sauste in seinem Rollstuhl am Geländer der Wendeltreppe hinunter.

Uih, wie da der Wind durch seine Felgen pfiff und hätte er noch Haare auf dem Kopf gehabt, so wäre sie wohl davon geweht worden. Seine dicke orange-rote Strickmütze wehte aber so schnell nichts davon. Kein Sturm und keine Wendeltreppenkarussellfahrt.

«Pah, pahhhhhh. Papapapahhh, pahhhhhh. Papapapahhhhhh. Bumbumbumbum.» So sauste er den ganzen Leuchtturm hinunter. Unten sprang die Tür von allein auf, aus Angst der wilde Rollstuhlrennfahrer würde sonst samt Tür hinaus aufs Meer springen.

Und alles nur, weil Kuckuck kam. Das Mädchen ging gerade den schmalen Kieselweg zum Leuchtturm hinauf. Jeden Donnerstag besuchte sie ihn, wenn die Fähre am Bootssteg anlegte. Sie hob ihre Hand und schlug kräftige Wellen in die salzige Meeresbrise.

Unter ihren Füssen knirschten die runden Steinchen des Kieselsteinweges. Plötzlich sah sie ein kleines Funkeln. Es war so schön, dass sie sich auf die Steine hockte und es aufhob. Kuckuck, die eigentlich Anna Maria Cuxhaven hiess, drehte das kleine Steinchen in ihren Fingern.

Es war so winzig und so hübsch und glitzerte geheimnisvoll in der Nachmittagssonne. So ein Steinchen hatte sie noch nie, in ihrem ganzen Leben, nicht gesehen. Vorsichtig steckte sie sich das Steinchen in die Tasche und ging bis zum Leuchtturm hinauf.

«Tach», sagte sie und setzte sich auf die Bank neben der Tür.

«Tach», sagte auch Rolli und rollte zu ihr.

«Und?», fragte er, während beide uninteressiert aufs Meer blickten.

«Geht so», antwortete sie und verschränkte die Arme hinter ihrem Kopf. Sie lehnte sich zurück und liess die Sonne auf ihr Gesicht scheinen. Ihre dünnen Beine baumelten hin und her, wie geringelte Fähnchen im Wind.

«Hier, auch. Geht so, meine ich», sagte Rolli und sah stur auf die Wellen hinaus. Das machte Kuckuck nun aber doch neugierig.

«Was geht denn so, hier?» Sie stützte sich mit den Händen auf die Bank und sah den alten Mann an.

«Ich meine ...». Sie zögerte und sah auf die Beinstumpen, die unter der Wolldecke auf dem Rollstuhl lagen und nicht mal mehr zuckten.

«Nee, ich nicht», lachte Rolli. «Ich ganz sicher nicht. Aber die Gerlinde, die geht. Und zwar geht die mir ganz schön auf die Nerven. Sie wandert auf dem Geländer auf und ab und schimpft und meckert die ganze Zeit.»

«Was schimpft sie denn? Ist sie denn nicht zufrieden?»

«Zufrieden? Pah», gurrte es. Gerlinde flatterte heran und setzte sich auf Rollis linke Schulter. Sie reckte den Kopf in alle Himmelsrichtungen damit Kuckuck das prachtvoll glänzende und gerade zur Ordnung gebrachte Federkleid bewundern konnte. Doch anscheinend war das Mädchen nicht an Mode interessiert. Das war Gerlinde sofort klar geworden, als sie den schäbigen Wollpulli sah, den Kuckuck heute trug.

«Papalapapp, Zufrieden, hier? Ich?» Sie zupfte an ein paar silbernen Federn auf ihrem Rücken. Dann fuhr sie wehmütig fort.

«Ach, wo wir noch in der Stadt waren. Da war was los», begann die Taube, «doch hier ist nichts mehr los. Im Gegenteil. Anbinden, hier muss man alles anbinden, sonst fliegen einem noch die Töpfe von der Wäscheleine.»

«Warum seid ihr eigentlich nicht in der Stadt geblieben?» fragte Kuckuck. Sie holte zwei rote Lutscher aus der Tasche und gab Rolli einen davon.

«Hmmm, süss», sagte er genüsslich und schob den Lutscher in den Mund. «Kirsche. Kirsche mag ich am Liebsten», sagte er.

«Ich weiss. Ich auch», sagte sie zufrieden und lutschte einige Male geräuschvoll an ihrem. «Die sind richtig gut.»

«Ja, das sind sie», antwortete Rolli. Ein breites Lächeln rauschte durch seinen Bart.

«Und?»

«Was, und? Ach, warum wir jetzt hier sind? Hmmmm,» Rolli kratzte sich das drahtige Gewirr in seinem Gesicht. «Also das war so», hüstelte er in seine grosse Hand, «früher hab ich nämlich für die städtische Verkehrswacht gearbeitete. Ich habe mit meinem Leuchtturm an der grossen Strasse gestanden und wenn der Verkehr zu viel wurde oder ein Stau drohte, dann habe ich immer das Signalfeuer angemacht.

Mit der Zeit wurde der Verkehr immer mehr. Die Autos rasten, wie ein bunter, lauter Fluss vorbei. Keiner hatte mehr Zeit zum Leuchtturm hinauf zu winken oder zu einer Tasse Tee zu Besuch zu kommen. Dann wurden die Autos so viele, dass es immer öfter Stau gab, schliesslich brauchte ich das Feuer gar nicht mehr löschen. Es brannte jeden Tag. Es war einfach immer nur Stau. Stell dir das mal vor. Da braucht man doch kein Auto, wenn man nur darin herum sitzt. Da sitzt ich ja viel lieber hier draussen mit dir.» Der Alter lächelte dem Mädchen zu.

«Jedenfalls, wegen des ständigem Signalfeuers wurde es im Leuchtturm immer wärmer und stickiger. Schliesslich stellte ich einfach ein grosses Schild an die Autobahn «Achtung! Stau!» packte meine Sachen und machte mich mit dem Leuchtturm und Gerlinde auf die Suche nach einem neuen Plätzchen.

Ich dachte mir, ich möchte einmal ganz woanders wohnen. Wo, wo es schön ruhig und einsam ist. Wo einem die frische Luft die Nase aus dem Gesicht weht. Daher sind wir auf diese kleine Insel gezogen. Das Meer ist einfach wunderbar. Es ist immer anders, mal rauscht es, oder tobt, mal ist es sanft und mal ganz ruhig. Dann nennt man es auch den stillen Ozean. An diesen Tagen bin ich besonders leise, damit ich es nicht störe. Ich koche meinen Tee mit kaltem Wasser und lese immer die gleiche Seite der Zeitung, damit ich sie nicht umblättern muss.»

Kuckuck nickte verständnisvoll. Der alte Mann sah mit einem weichen Lächeln auf das Meer hinaus. Eine ganze Weile herrschte Stille. Beide liessen ihre Gedanken auf den Wellen schaukeln und fühlten sich so wohl, wie nur sie sich fühlen konnten, und das auch nur dann, wenn sie hier zusammensassen und über die Welt nachdachten.

«Und du, was hast du vorhin auf dem Weg gefunden? Ist es was interessantes? Oder was geheimes? Oder vielleicht was wertvolles?» Rolli sah das Mädchen gespannt an. Kuckuck schob ihre Hand in die Tasche und holte in ihrer Faust etwas ganz Kleines heraus. Langsam öffnete sie die Hand. Beide Gesichter neigten sich tief über die kleine Hand. Ein kleines Steinchen lag darin, braun und grün schimmernd.

«Ahh, ich verstehe», sagte Rolli. «Das ist ein Körnchen Wahrheit. Ich habe auf der Insel schön öfter eines davon gefunden. Die sind sehr selten geworden. Doch wenn du Glück hast, dann findest du eins. Mir kommt es sogar so vor, dass es hier auf der Haifischinsel mehr davon gibt, als in der Stadt.»

«Boah echt?»Beeindruckt sah Kuckuck auf den kleinen Stein in ihrer Hand. «Ja, ja. Das ist wohl so. Da hast du sicher recht», sagte sie, steckte das Körnchen Wahrheit wieder zurück in ihre Tasche und blickte hinaus aufs Meer. Sie hatte tatsächlich etwas geheimes und sehr wertvolles gefunden.

Unten am Anlegesteg schaukelte die Fähre. Der Fährmann lud einige Sachen, Körbe und Pakete ab.

«Du, Rolli? Was würdest du eigentlich machen, wenn die Fähre nicht wäre?»

«Währe, währe», echote Gerlinde und flatterte nervös auf Rollis Schulter herum. «Die Fähre, nicht wäre? Oh weh, oh weh. Dann wäre, hier Leere, ohne die Kuckuckfähre.» Die Taube taumelte auf der Schulter des alten Mannes und liess sich in seinen Schoss fallen. Rolli kraulte Gerlinde den schlanken Hals.

«Mmmm, dann müsste ich mir wohl ein Boot bauen. Denke ich.» Rolli streckte sich in seinem Rollstuhl etwas nach vorn, um über den Kiesweg hinweg bis zum Anlegesteg schauen zu können. Man bräuchte ein Boot», sagte er nachdenklich.

«Schade, dass du nicht winzig klein bist. Dann könntest du in einer Nussschale fahren.» Kuckuck drehte eine Walnuss zwischen ihren Fingern. Sie hatte die Nuss in der Tasche entdeckt, als sie das Körnchen Wahrheit hineingeschoben hatte. Irgendwann hatte sie sie gefunden und in die Tasche gesteckt und nun, da war die Nuss.

«Ja, das ist schade», antwortete Rolli. «Aber ich werde wohl nicht mehr so viel kleiner werden.»

«Gibt es denn keine grösseren Nüsse?» Kuckuck sah nachdenklich die Nuss an. Ihre braunen Augen kniff sie angestrengt zusammen. «Es müsste doch einfach nur grössere Nüsse geben.»

«Gewiss, gewiss. Es gibt noch grössere und wenn ich genau nachdenke, sicher gibt es auch die ganz Grossen. Da könnte man ein Boot draus bauen. Doch die wachsen weit weg in der Südsee, oder der Westsee.» Der Alte winkte mit der Hand ab. «Da werden sie auch als Boote benutzt. Das ist mal sicher.»

«Gut haben es die Leute in der Südsee und der Westsee», sagte Kuckuck ernst und sah auf das Meer hinaus.

«Ja, die haben es gut.», murmelte der Alte.

Dann sassen sie einfach nur schweigend nebeneinander und sahen auf die Wellen. Vielleicht würde am Horizont ja eines der Nussboote auftauchen und kurz danach wieder verschwinden.