Die Haifischinsel - Die Welt steht Kopf
«Was ist denn da los?» Rolli öffnete das Leuchtturmfenster und beugte sich nach draussen. Der Himmel über ihm war grau und wolkig. Das Meer rauschte an den Strand und trug Seevögel auf die Haifischinsel. Doch diese blieben nie lang.
Er blickte den langen Hals seines Leuchtturms hinunter und sah auf zwei Füsse. Gerlindes Füsse.
Die vornehme Stadttaube lag auf dem Rücken, die Beine samt Füsse in die Luft gestreckt, direkt an seinem Leuchtturm. Rolli fuhr der Schreck in die Knochen, aber nur bis zur Hüfte, denn wo seine Beine hätten sein sollen, waren nur noch zwei kleine Stümpfe. Aber das reichte schon.
Mit einem Affenzahn sauste Rolli nun die Wendeltreppe hinunter. Er hielt sich dabei am Geländer fest und rollte und rollte und rollte direkt aus der bei Seite springenden Tür hinaus.
Auf dem Kiesweg vor dem Leuchtturm bremste er ab. Knirschend drehte er den Rollstuhl um.
«Gerlinde, was ist denn passiert?», fragte er ausser Atem.
«Passiert? Passiert? Nichts ist passiert. Hier passiert doch nie etwas.», empörte sich die Taube und wackelte mit den Zehen. Sie breitete die Flügel im Kies aus und machte einen kleinen Kiesengel.
«Und ich dachte schon du bist vom Himmel gefallen.» Rolli schlug sich die Hand vor den Kopf.
«Du bist mir eine schöne Taube.»
«Schön? Schön? Natürlich bin ich schön.» Gerlinde sprang auf und klopfte sich den Staub aus den Federn.
«Aber mit Schönheit hat das ja auch nichts zu tun. Versauern kann man hier nur. Sauer und sauer und sauer...», plapperte Gerlinde vor sich hin und wackelte um den Leuchtturm herum.
«… und sauer und sauer und sauer», sagte sie immer noch, als sie auf der anderen Seite wieder zum Vorschein kam. Sie war einmal um den ganzen Leuchtturm gelaufen. Nun erschrak sie. Sie plusterte ihre Federn auf, so dass ihre Brust sich wölbte.
«Ojee, Ojee. Hilfe. Zu Hilfe, der Rolli ist nicht mehr im Rolli.» Gerlinde lief im Kreis und flatterte aufgeregt mit den Flügeln.
«Gar nicht mal so übel», sagte Rolli.
«Was machst du da?», fragte eine zarte Stimme. Kuckuck stand neben Rolli, der auf dem Rücken lag und seine Beinstummel am Leuchtturm entlang in den Himmel streckte.
«Kuckuck. Kuckuck. Da ist sie ja. Bitte, wir müssen dem Rolli doch helfen», kreischte Gerlinde aufgeregt.
«Aber der sieht doch ganz zufrieden aus», sagte das Mädchen, das eigentlich Anna Maria Cuxhaven hiess. Sie blickte in das lächelnde Gesicht das alten Leuchtturmwärters. Buschige Augenbrauen, wirrer Bart und eine blau geringelte Strickmütze auf dem fast kahlem Kopf. Aber die Augen, die leuchteten fröhlich.
«Das bin ich auch. Das bin ich auch. Die Gerlinde hat mich auf eine prima Idee gebracht. Und wo heute doch so viele Wolken am Himmel tanzen, da wollte ich eben mit tanzen.»
«Tanzen, pah. Du und tanzen», die Taube winkte mit den Flügeln und stolzierte die schiefe Wäscheleine am Leuchtturm hinauf.
Kuckuck aber lächelte.
«Prima. Das mache ich auch.» Sie legte sich in den Kies neben Rolli und streckte ihre dünnen Beine am Leuchtturm entlang nach oben. Fast sah es so aus, als berührten ihre Fussspitzen die dicken Wolken am Himmel. Sie rührte mit den Füssen, die in abgetretenen Turnschuhen steckten, die Wolkenmasse durch. Tippte hinein und zupfte kleine Fetzen ab. Natürlich nicht wirklich, aber es sah fast danach aus. Zumindest stellte sich Kuckuck das so vor.
Kuckuck schob ihre Hände unter den Kopf und sah nun in das Wolkenmeer hinein.
«Du, Rolli.»
«Hmmm», brummte der Alte.
«Woher kommen eigentlich die Wolken?» Kuckuck wackelte mit ihren Füssen.
«Eine gute Frage.» Rolli blickte nachdenklich in die Wolken, die vom Meer her über sie hinwegzogen.
«Ich denke auf der anderen Seite, weit draussen auf dem Meer, da steht auf einer kleinen Insel, so wie diese hier, eine Wolkenfabrik. Ich habe selbst schon einmal eine gesehen. Als ich noch in der Stadt gewohnt habe. Da stehen die Wolkenfabriken am Stadtrand, damit die Wolken erst einmal etwas fliegen können, bevor sie an den Hochhäusern der Stadt hängen bleiben.
Die Wolken über dem Meer kommen von eben so einer Fabrik. Eine Fabrik für Meerwolken.»
«Gibt es denn so was?», fragte Kuckuck.
«Sicher. Sicher. Meerwolken treiben nur über die Meere, regnen sich weit draussen auf dem Ozean ab und treiben die Sturmvögel voran. Es sind ganz spezielle Wolken. Die kann nicht jede Fabrik herstellen.»
«Und wie macht die Fabrik das?»
«Das ist topsecret, streng geheim, aber ich könnte schwören, dass da jede Menge Wind benötigt wird. Denn immer, wenn es völlig windstill wird, sieht man wie am Horizont riesige Wolkenberge entstehen. Und dann, mit einem Sausen und Brausen kommen sie heran gezogen. Sie blasen plötzlich so stark, dass der Gerlinde schon mal ein paar Federn davon geweht wurden. Tagelang war die Ärmste krank und kam nicht aus ihrem Verschlag, weil sie ganz zerzaust aussah.»
Kuckuck atmete tief ein.
«Die Arme.»
«Ja, ja. So ein Sturm ist nichts für schwache Nerven.»
«Ist denn die Wolkenfabrikinsel so nah?»
«Nein, nein. Da brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Und heute ist es auch viel zu windig, als dass ein Sturm sich nähern könnte.» Rolli presste seine Strickmütze auf die Glatze und wackelte mit dem, was von seinen Beinen noch vorhanden war.
«Aber toll sehen sie schon aus, die Wolken», sagte Kuckuck.
«Toll, sind sie immer. Und wenn man so durch sie hindurch tanzen kann, macht das graue Wetter auch richtig Spass.»
«Stimmt», sagte Kuckuck und hüpfte mit den Beinen durch die Luft.
«Wolkentänzer, phhh. Und um mich kümmert sich wieder keiner», schimpfte Gerlinde auf der Wäscheleine und zupfte sich das Federkleid zurecht.