Der Tisch

Der Tisch

Das Surrend der Lampe schien immer lauter zu werden. Vielleicht sollte sie die Lampe löschen? Dann würden sich wahrscheinlich auch die Fliegen beruhigen und endlich irgendwo anders herumschwirren. Die tapezierten Wände wären doch ideal, oder das Fenster. Konnten die blöden Fliegen nicht einfachen gegen die Scheibe fliegen, wieder und immer wieder und sich die kleinen Schädel dabei zertrümmern?

Aber sie krabbelten nicht an den Wänden entlang, verfolgten nicht das grässliche vergilbte Blumenmuster auf der Tapete. Sie flogen um ihren Kopf herum, landeten auf ihrem Gesicht, krabbelten über ihre zitternden Lippen. Sie tasteten die feinen Härchen an ihrem Arm ab und tranken ihren Schweiss.

Seit 30 Minuten sass sie unbeweglich am Tisch. Sie beobachtete, wie die Fliegen über den Tisch liefen, mit ihren Rüsseln die Krümel einspeichelten und sich an den Resten vom Essen labten. Dann flogen sie aufgeregt davon, kamen zu zweit wieder, paarten sich ekstatisch brummend. Die Geräusch wurdenunerträglich.

Vor ihr auf dem abgewetzten Tisch lag das grosse Gemüsemesser. Sie hatte es vor Jahren auf dem Markt gekauft und seit her unzählige Male benutzt. Doch es schien, wie neu zu sein. Es war noch immer so scharf, wie nach dem Kauf. Damals war sie sehr vorsichtig damit umgegangen. Sie hatte Angst, sie könne sich damit schneiden. Das Messer würde tiefe Wunden hinterlassen. Mit der Routine wich die Vorsicht und wie schon geahnt, hatte das Messer in ihren Händen Spuren hinterlassen. Spuren ihres Lebens, der vielen Jahre, die ihre Haare grau gefärbt, die Haut ausgeblichen und die Augen getrübt hatten.

Unzählige Falten zogen sich über ihre Hände, braune Flecken auf trostlosem Grau, blutleere Adern, schrundige Knöchel. Sie zitterte, als sie behutsam über das Messer strich. Es streichelte, wie einen altenvertrauten Freund. Sie konnte die Speisen riechen, die sie mit seiner Hilfe zu bereitet hatte, die Karotten, den Sellerie, den Kohl… Es hafteten so viele Gerüche an ihm und an ihren Händen. Wabernde Nebel zogen durch die Küche und über den Tisch. Sie sah dampfende Suppenschüsseln und angewiderte Kindergesichter, umgekippte Milchbecher, grosse Pizzafladen an denen gerissen wurde. Sie spürte die Wärme, die von diesem Tisch ausging. Sah die Leidenschaft beim Brotteigkneten, kleine und grosse Hände gemeinsam Plätzchen ausstechen, sah Finger, die Herzen in das Mehl malten und Hände die sie auf den Tisch setzten und liebten.

Der Nebel verzog sich wieder, geblieben waren die Krümel auf dem Tisch, die summenden Fliegen, die sich darum stritten und das Messer.

Die Jahre waren an ihr vorbei gegangen und hatten alles mit sich gerissen. Nur der Tisch war noch da, wie ein Fels in der Brandung ragte er aus den Stürmen der Zeit. Das Messer darauf eine spitze Klippe und sie das kleine schwankende Boot.

Sie hatte nichts mehr zu geben. Alles, einfach alles war von der Flut davon getragen wurden. Jetzt war Ebbe. Ebbe in den Zimmern, Ebbe auf dem Tisch und Ebbe in ihrem Herzen. Was konnte sie noch tun? Was aus den letzten Tagen rausholen?

Das kleine Boot wankte auf den Wellen hin und her. Trieb gefährlich nah an die Klippen. Diese glänzten verführerisch.

Dann zogen sich plötzlich die dunklen Wolken am Horizont zu einem gewaltigen Sturm zusammen. In ihr pulsierte das Blut und Adrenalin schoss ihr durch die Adern. Sie nahm entschlossen das treue Messer in die Faust und stach, stach gewaltigen Ausbrüchen gleich auf den Tisch ein. Dieser bebte unter der Wucht der Einschläge.

Als der Sturm sich gelegt hatte, besah sie sich den Schauplatz. Nicht eine einzige Fliege hatte sie erwischt. Dafür hatte nun der Tisch unzählige Kerben und das Messer steckte noch leicht schwingend in einer.

Sie aber stand auf. Sie spürte die Flut kommen. Und wer weiss, was diese mit sich bringen wird.