Der Sog

Der Sog

Fleischbrocken reissen von ihren Knochen. Ein unendlicher Sog, der an ihrem Körper zerrt. Sabine liegt im Bett, den bebenden Körper fest mit der Decke umwickelt. Heulkrämpfe fluten in ihr an und ebben wieder ab. Sie versteht das alles nicht. Ihre Gedanken drehen sich im Kreis. Sie fühlt sich wie auf einem Karussell. Jede Zelle ihres Körpers wird durch die unbändige Fliehkraft weg vom Zentrum gezogen, weg von ihr. Und sie will es nicht aufhalten, will sich schneller drehen, die Kraft spüren, die an ihr reisst, bis ihr Körper zerpflückt wird und sich in alle Richtungen verteilt.

Doch sie muss sich beruhigen. Muss sich sammeln. So kann es nicht weitergehen. Ein kleiner Streit, eine unangebrachte Bemerkung von Marcel und schon bringt es sie völlig von der Spur. Heute hat er nicht einmal bemerkt, wie sehr er sie mit seinem Verhalten getroffen hat. Er weiss nicht, dass sie heulend im Bett liegt und versucht an sich festzuhalten, sich nicht zu verlieren.

Sabine versucht sich zu beruhigen. Sie stellt sich vor, wie sie alles was sie ausmacht, Bücher, Kleider, Erinnerungsstücke, wie sie das alles in ein grosses Feuer wirft. Jedes Stück ruft sie sich ins Bewusstsein und dann wirft sie es den Flammen zum Frass vor. Wie eine Wahnsinnige verzerrt sich ihr Gesicht. Aber es funktioniert. Sie beruhigt sich. Ihr Atmen wird ruhiger, die Tränenflut verrinnt. Als sie schliesslich nichts mehr weiss, was sie in die Flammen werfen könnte, steigt sie auf den Scheiterhaufen ihres Lebens und voller Inbrunst spürt sie wie die Flammen an ihr empor züngeln. Dann schläft sie ein.

Doch so hell die Flammen in der Nacht gelodert haben, so dunkel sind die Tage danach. Ein gähnendes Loch hat sich unter ihr aufgetan. Sie hockt am Rand und sieht den bröckelnden Steinen zu, die vom Rand in den gierigen Schlund fallen. Sie hat nicht die Kraft aufzustehen, sich von allein weg zubewegen. Sie wartet, bis die Steine unter ihr nachgeben und sie sich einfach fallen lassen kann.

Noch wenige Zentimeter, dann beginnt der Boden unter ihr weg zu rutschen. Sie klammert sich noch am Rand fest, doch sie hat keine Kraft. Sie lässt los. Da packt eine Hand nach ihrem Arm und zieht sie langsam zurück auf den Boden. Marcel hat sich zu ihr auf die Couch gesetzt. Sein Arm liegt um ihre Schulter.

„Ich weiss nicht was mit dir ist. Du siehst furchtbar traurig aus. Was ist passiert?“

Unter Sabines Füssen schliesst sich langsam der Abgrund. Der Sog lässt nach und erschöpft lässt sich Sabine in Marcels Umarmung fallen.