Der Geruch von Mörtel (1)

Der Geruch von Mörtel (1)

Kaum wurde die Tür hinter mir geschlossen, verstummten die Schreie. Plötzlich Stille. Stille, die in einem Raum gefangen war. Eingesperrt auf 12 qm. Mit dieser Stille musste ich nun leben lernen. Wie war ich nur hier her gekommen?

Es hämmerte in meinem Kopf. Einzig dieses metallische Hämmern konnte ich hören. Ich lehnte mich gegen den kalten Beton, sog tief den Geruch des Mörtels ein. Ein Geruch, der mich an eine andere Zeit erinnerte.

Damals war ich unbeschwert, jugendlich, noch fast ein Kind. Wir wohnten in einer der neuen Plattenbausiedlungen. Bis in den sechsten Stock stieg ich jeden Tag mehrmals die hallenden Treppen hinauf, einen Fahrstuhl gab es nicht. Im Treppenhaus roch es nach Baustaub, Beton und Mörtel. Ich liebte diesen Geruch. Jahre später war er alles, was mir geblieben war, von meiner Kindheit. Alles andere war tot, verbrannt, abgerissen, abgehauen, verschwunden. Ich war nicht gerade unschuldig an den Tragödien meiner Familie und meines Lebens. Aber die Frage nach Schuld stellte sich gar nicht mehr. Es war alles schon lange her und längst vergessen. Einzig der Geruch war geblieben und mit ihm einige wenige glückliche Bilder in meinem Kopf.

Und nun war ich hier. Ich sah mich in meinem neuen zu Hause um. Der Raum kaum grösser als ein kleines Badezimmer, in der Ecke eine Kloschüssel und ein Waschbecken. Naja, wenigstens sauber. Und natürlich ein Bett. Das Gestell hing an der Wand, darunter ein Board und ein Schemel. Und das war es auch schon. Der Raum wirkte, wie ein Schacht oder Brunnen. Er war unverhältnismässig hoch. Vier vielleicht fünf Meter. Oben gab es einen schmalen waagerechten Schlitz, das Fenster, zu hoch oben und zu schmal. Dort hinaussehen zu können, ein hoffnungsloser Traum. Und ich war gefangen in diesem hoffnungslosen Alptraum. Aber noch immer wusste ich nicht warum.

Man hatte mich mit einer Art Bus hierher gebracht. Das Fahrzeug hatte keine Fenster, dafür Zellen. Als ich ausstieg, konnte ich für einen Moment den sternenklaren Nachthimmel sehen. Dann wurde es dunkel. Es war einfach nur schwarz. Ein langer Tunnel führte in einen schwarzen Innenhof. Doch von hier aus sah man nur noch gewaltige Mauer, die auf einen herabzustürzen schienen. Man band mir eine Augenbinde um. Dann packte jemand meine gefesselten Handgelenke und stiess mich voran. Ich hörte schreckliche Schreie. Verzweiflung, Wut, Angst, Aggression, alles schlug mir so massiv entgegen, dass ich fast froh war, als es plötzlich endete und ich in meiner Zelle angekommen war. Man löste mir die Binde von den Augen und stiess mich zu Boden. Im Knien löste man mir die Handschellen und dann war ich allein.

Wie lange ich hier bleiben musste, wusste ich nicht. Keiner hatte mit mir gesprochen. Ich wusste nicht einmal, warum ich draussen Schreie gehört hatte und nun alles so still war. War ich so isoliert? Würde man mich schreien hören? Aber warum sollte ich schreien? Dadurch würde ich nichts ändern können. Ich musste nachdenken. Wieso war ich hier? Einzig das war jetzt wichtig. Doch noch immer spürte ich nur eine völlige Leere in meinem Kopf. Aber das Hämmern liess allmählich nach und durch den Fensterspalt schien ein schmaler Streifen Licht. Ich legte mich auf die Pritsche und schlief ein.

Drei Mahlzeiten regelten den Tag. Ich hatte ein wenig geschlafen, wie lange weiss ich nicht. Da hörte ich Schlüssel klappern. Die äussere Stahltür wurde aufgeschlossen. Jemand blendete mich mit einem Scheinwerfer. Als die Tür wieder abgeschlossen und verriegelt wurde, nahm ich eine Blechschüssel wahr. Sie stand auf einem kleinen Durchreichespalt der inneren Gittertür. Eine Art Tablett war dort angebracht. Ich nahm die Schüssel und den Becher, der dahinter stand. Das im Becher sollte wohl Kaffee sein, in der Schüssel lagen zwei Scheiben Brot, dazu ein Stück Butter, eine Scheibe Käse und ein halber Apfel.

Auf diese Weise bekam ich nun jede Mahlzeit. Ich sah niemanden und hörte niemanden. Nach einiger Zeit begann ich den Verlauf des Lichtes an der Wand zu beobachten. Ich versuchte Tageszeit und sogar Jahreszeit daran abzulesen. Aber ich war nie besonders gut in der Schule gewesen. Es gelang mir nur die für hier geltende Tageszeit zu bestimmen. Hier ticken die Uhren anders. Hier war es nicht wichtig wie spät es war, sondern nur, wie lange es noch bis zur nächsten Mahlzeit dauern wird. Ich merkte schnell, wie Verzweiflung an mir zu nagen begann. Aber ich wollte nicht verrückt werden. Ich wollte meinen Verstand nicht auch noch verlieren. Ich war doch alles, was noch geblieben war. Also begann ich wieder mit dem Nachdenken.

Ich hatte einiges auf dem Kerbholz. Aber rechtfertigt das, diesen Aufenthalt? Und warum durfte ich mit niemanden sprechen? Hatte ich keinen Anwalt, oder so etwas? Ich konnte mich nicht einmal an einen Prozess, oder ein Verhör erinnern. War das hier womöglich eine spezielle Art Irrenanstalt für kriminelle Nichtzurechnungsfähige? Aber ich war nicht verrückt. Noch nicht. Ich musste meine letzten Stunden in Freiheit rekonstruieren. Nur dann hatte ich eine Chance.