Der Geruch von Mörtel (2)

Der Geruch von Mörtel (2)

Meine letzten Stunden in Freiheit. Wie lange war das her? Ich dachte an den Bus. Wie bin ich in diesen Bus gekommen? Es roch feucht und nach Urin. Daran erinnere ich mich noch. Ich sass in einer vergitterten Zelle auf einer Bank. Der Fussboden war dreckig und nass. Mir war schlecht. Am liebsten hätte ich gekotzt. Doch mein Magen fühlte sich leer an. So leer, dass es schmerzte. Ich weiss noch, dass ich etwas rief. Aber es kamen nur lallende Laute aus meinem Mund und niemand reagierte darauf.

Die Fahrt war sehr lang. Ich schlief gelegentlich ein. Aber immer wenn mein Kopf gegen die Wand knallte, wachte ich wieder auf. Da hatte ich auch schon diese hämmernden Kopfschmerzen. Ich konnte … ich wollte nicht nachdenken. Doch jetzt wo die Zeit still steht, bleibt mir nichts anderes, ausser nachzudenken. Das soll wohl auch der Sinn dieser Anstalt sein. Nachdenken über sein Vergehen. Aber was war mein Vergehen? Ich kam einfach nicht weiter. Resigniert liess ich mich auf meine Pritsche fallen und beobachtete den Lichtstreifen des Fensters.


Durch schmale Schlitze im Beton schien die Morgensonne ins Treppenhaus. Wir waren gerade erst in den Neubau eingezogen und ich war stolz in einer dieser modernen Wohnungen zu wohnen. Nach der Schule trafen sich die Kids an der Ecke des grossen Wohnblocks. Hier begann ihre Welt. Die Wohnblocks hatten an den Seiten keine Fenster. Das war die Grauzone. Das war unser Gebiet. Unbeobachtet konnten wir hier unsere Geschäfte abziehen und uns mit anderen im Schlamm prügeln. Es gab nur wenige mit Gehwegplatten befestigte Wege. Aber an den Seiten der Häuser war nichts, nur Lehm und Schlamm und vor allem Schatten.

Ich war einer der Ersten, der hier Fuss fasste. Ich erkannte gleich das Potential. Viele Kinder liefen zwischen den neuen Wohnblocks umher oder hingen auf den mageren Spielplätzen herum. Ihre Eltern waren alle samt tüchtiges Arbeitervolk, guter Mittelstand.

Anfangs war es auch eher harmlos. Ich beobachtete die Kinder eine gute Zeit lang und dann, wenn ich einen allein erwischte, zog ich ihn ab. Kaugummis, Gummibären, Schokolade. Was er eben gerade in den Taschen hatte. Manchmal sogar etwas Kleingeld. Meiner Ausstrahlung hatte ich es zu verdanken, dass man mir alles gab, ohne Widerworte. Ich war der anständige Nachbarsjunge. Ordentlich gescheitelte blonde Haare, strahlende Augen und, wenn ich wollte konnte ich gewinnend lächeln. Ich half den hübschen Müttern die Einkäufe tragen und hielt den alten Schachteln die Tür auf.

Doch ich konnte auch anders. Wenn ich in der Grauzone war, verschwand mein Lächeln, meine Schultern stärkten sich, meine Haltung wurde aggressiv. Meine schönen blauen Augen traten fordernd hervor und ich konnte meinen Kiefer so anspannen, dass er kantiger, gewalttätiger wirkte. Denn nur so konnte ich meine Position aufbauen. Ich erkannte bald mein Stärke und die Möglichkeiten, die diese Gegend boten. Durch die vielen Kinder hier, gab es auch viele Raufereien. Da kam ich auf eine Idee.

Schon bald hatte ich eine kleine Anhängerschaft um mich gesammelt und wir begannen gewaltig auf den Spielplätzen und hinter den Häusern mitzumischen. Anfangs halfen wir anderen einfach nur so wenn Schlägertypen auftauchten. Doch schnell konnten wir daraus Gewinn schlagen. Es reichte schon, wenn einige von uns in Sichtweite waren. Dafür bezahlten uns die Kinder gerne. Es gab auf einmal kaum noch Schlägereien. Die anderen Banden, die unser Spiel schnell durchschaut hatten und gegen uns arbeiteten, waren nicht stark genug. Es waren zu wenige und sich miteinander gegen uns zu verbünden, auf diese Idee kamen sie nicht.

Um Punkt 18 Uhr, wenn die Busse von den grossen Fabriken kamen und die Eltern ausstiegen. Verwandelte sich die Grauzone zurück in die dunklen Schatten der Häuser und alle Bandenmitglieder in die wohlerzogenen Kinder der Mittelschicht. Alle gingen nach Hause. Auch ich. Ich rannte meiner Mutter entgegen, riss ihr die Einkaufstasche fast aus der Hand und umarmte die zarte Frau. Aufmerksam lauschte ich ihren Worten, während wir die vielen Stufen zu unserer Wohnung hinaufstiegen. Mit jedem Schritt atmeten wir tief ein und ich beobachtete die letzten Strahlen der untergehenden Sonne durch die schmalen Fenstern des Treppenaufgangs.

Zu Hause war ich dann einfach nur der Sohn meiner Mutter. Ich half ihr den Tisch zu decken und dann beim Abwasch. Danach machte ich Hausaufgaben und las meiner Mutter vor. Ich war so glücklich mit ihr. Doch dann kam Robert...