Das Bild
Ich sitze nackt in den Dünen. Das Gras kitzelt meine Haut. Den Kopf im Nacken beobachte ich die Wolken. Sie ziehen langsam über den hellblauen Himmel. Ihre Ränder lösen sich auf und verschmelzen mit dem Hintergrund. Als wenn jemand mit den Fingern über eine Bleistiftzeichnung wischt. Die Formen werden weicher und undefinierbarer. Dann fliegen Möwen über mich hinweg und geben dem Ganzen eine klare Form zurück.
Das Meer rauscht in meinen Ohren. Betäubend. Stimmen schwirren plötzlich in meinem Kopf. Ich höre den Befehlston heraus. Und die Angst der anderen. Unsicherheit klingt in den Stimmen. Der Strand ein Minenfeld. Ich hatte meine kleine Schwester an der Hand. Wir wollten Kiefernzapfen sammeln, im angrenzenden Wald. Der Strand war tabu. Das wussten wir. Doch da waren Männer. Viele Männer. Wir duckten uns ins Unterholz und beobachteten die Männer. Soldaten in grauen Mänteln. Die Gesichter schmutzig und ausgemergelt. Der Krieg war vorbei. Was wollten die Soldaten hier? Es waren fremde Soldaten. Die Uniform kannte ich nicht. Es waren auch Soldaten von uns dabei. Ich erkannte die französische Uniform. Doch die hielten Gewehre. Sie schossen auf die anderen Soldaten. Sie trieben sie, wie Vater das Vieh von der Weide treibt, vor sich her.
Die Fremden knieten im Sand tasteten sich langsam, zitternd vorwärts. Sie suchten Minen!
Dann riss eine Detonation uns von den Füßen. Wir fielen rücklings auf den Waldboden. Ich zog meine Schwester hoch und rannte mit ihr in den Wald. Wir hörten in die Stille. Nichts als das Rauschen der Brandung. Wir hatten furchtbare Angst und doch zog uns die Neugier zurück. Vom Wald aus sah man am Strand, dort wo die Männer waren, nur noch dunkle Fetzen liegen. Meine Schwester weinte schrecklich und zog an meinem Arm. Sie wollte Heim. Doch ich blieb stehen und starrte auf das Schauspiel vor mir. Das Meer leckte am Strand und zog ein Fetzen nach dem anderen mit sich. Dann bewegte sich etwas. Ein klägliches Rufen. Es hatte jemand überlebt. Da unten lag ein Mann und lebte. Aber das Meer griff schon nach ihm. Er versuchte dem Wasser zu entkommen. Doch es fehlte ihm an Kraft.
„Du bleibst jetzt hier stehen. Du darfst nicht hinterher kommen.“ Ermahnte ich meine Schwester. Sie weinte fürchterlich und hielt mich fest.
„Das darfst du nicht. Du darfst nicht da runter gehen.“, bettelte sie.
Aber ich ging. Ich blickte nur auf meine Füße. Nicht links, nicht rechts. Ich versuchte den dunklen Fetzen keine Aufmerksamkeit zu schenken. Ich tastete mich von Loch zu Loch, dass die Soldaten zuvor mit den Händen gegraben hatten. Doch durch die Explosion war nicht immer zu erkennen, wo ein Loch war, und wo vielleicht noch Minen versteckt waren.
„Mädchen.“ , ein Röcheln. Ich war bei dem Mann angekommen. Zögerlich hob ich meinen Kopf. Ich ließ meinen Blick über den mageren Körper wandern.
Dann atmete ich auf. Alles dran. Überall Blut. Aber alles dran. Ich sah die Verzweiflung in den Augen des Mannes. Es war ein deutscher Soldat. Ich berührte seine Stirn mit den Fingerspitzen. Dann wurde er bewusstlos. Meine Schwester rief etwas. Ich blickte auf. Mir wurde bewusst, wie weit ich vom Wald entfernt war. Nie würde ich noch einmal das Minenfeld unbeschadet durchqueren können. Nicht mit einem bewusstlosen Mann. Was sollte ich jetzt tun? Ich hob den feuchten Körper an und schob meinen Rücken darunter. Dann zog ich den Mann durch die Brandung. Die Wellen spülten den Sand unter meinen Füßen weg.
Das Rauschen des Meeres übertönt selbst die Möwen, denke ich. Ich öffne meine Augen. Emils Gesicht ist konzentriert. Er verwischt die Konturen auf dem Bild. Meine Haare verfangen sich im Dünengras. Ich sehe den ernsten Mann dort sitzen. Wie schafft er es nur hierher zu kommen? Das Meer zu hören und den Sand unter seinen Füßen zu spüren? Er hat es vergessen. Er erinnert sich an nichts. Das Meer ist seine Rettung gewesen. Hat er einmal zu mir gesagt. Er malt meinen faltigen Körper und verwischt alles zu sanften Formen. Zu erkennen ist nur noch eine weibliche Figur in den Dünen. Sanft wogendes Gras und am Himmel scheint ein Leuchten vom Strand zu kommen. Doch das sehe nur ich.